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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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die Damastservietten
lagen in perfekter Geometrie auf der in Edelhölzern eingefassten Tischplatte.
    Noël fühlte sich
an den Großen Speisesaal des Eutiner Schlosses erinnert, den er neulich zusammen
mit Viviana und Antonio scherzend durchquert hatte. Dort war es ja mehr oder weniger
ein Museum, wie er fand. Hier aber, in der Wohnung eines Pächters, schien ihm dieser
Luxus völlig unangebracht. Nirgends fand er Gebrauchsspuren. Keine Krümel, keine
Blumen, keine Anzeichen von echtem Leben. Und das in dem Heim eines Einsiedlers?
    Noël öffnete
eine unscheinbare Seitentür. Die Küche. Dahinter sah es allerdings chaotisch aus.
Als würde hier ein liederlicher Junggeselle leben. Ungewaschenes Plastikgeschirr,
offene Konservendosen aus dem Supermarkt, leere Wodkaflaschen, volle Mülleimer.
– Welch ein Gegensatz zu dem Wohnzimmer! Spielte sich das Leben Romanowskys nur
hier in der billigen Küche ab?
    Angewidert drehte
Noël sich um und kehrte in den Wohnraum zurück. An der gegenüberliegenden Wand führte
eine steile Holztreppe nach oben. Neugierig eilte er hinauf. Hier befanden sich
offenbar das Arbeits- und das Schlafzimmer des Besitzers. Die gleiche Unordnung
wie in der Küche! Das Bett war ungemacht, Kleidung lag wahllos auf dem Boden. Und
im Arbeitszimmer belegten Berge von Büchern und Akten den Boden.
    Auf dem Schreibtisch
entdeckte der Eindringling eine merkwürdige Kugel. Wie die einer Wahrsagerin auf
dem Herbstmarkt. Das schwache Licht des noch jungen Tages brach sich in ihr und
warf einen gebündelten Strahl auf einen Aktenordner. Magisch zog er Noëls Augen
an. Er enthielt ausgeschnittene alte Zeitungsartikel über eine gewisse Anastasia,
eine angebliche russische Zarentochter.
    Lustlos blätterte
der Junge sich durch die Akte. Das fand er uninteressant. Er legte sie beiseite.
Zum Vorschein kam darunter ein Dossier neueren Datums. Das erregte sofort seine
Aufmerksamkeit. Noël blätterte ein wenig in den Seiten herum. Was er las, verschlug
ihm den Atem.
    Bingo! – Noël
erinnerte sich an Michas Berichte. Das war genau das, was er brauchte. Er fühlte
sich am Ziel.
    Aber er traute
sich nicht, das Material mitzunehmen. Erstens würde es schwer sein, sie beim Zurückschwimmen
trocken zu halten, und zweitens würde der Hausbesitzer den Verlust sicherlich schnell
merken und gewarnt sein.
    Sorgfältig legte
er alles wieder so hin, wie er es aufgefunden hatte. Dabei fiel sein Blick zufällig
auf eine Tonscherbe, die als Briefbeschwerer diente. Oder war es eine Keramik? Eidottergelb
leuchtete das Bruchstück im Morgenlicht. Noël nahm es und ging zum Fenster, um es
besser studieren zu können. Kunstvolle Verzierungen waren zu erkennen. Aber was
war das für Material?
    Noël wollte es
wieder zurücklegen, da bemerkte er durch die Dachluke, wie unten ein Mann auf das
Haus zukam.
    Romanowsky!
    Jetzt war Noël
der Rückzug abgeschnitten. Unkontrolliert in seiner Angst, entdeckt zu werden, steckte
er den Gegenstand einfach in seine Unterhose.
    Er piekte ihn
an empfindlicher Stelle, aber das war jetzt egal. Verzweifelt suchte er nach einem
Fluchtweg. Die Treppe runter konnte er nicht mehr, denn er hörte, wie sich der Mann
an dem Türschloss zu schaffen machte.
    Kurzentschlossen
öffnete er das Fenster und stieg aufs Dach. Zum Runterspringen war es zu hoch. Also
schmiegte er sich an die Dachschräge und bewegte sich vorsichtig entlang der eisernen
Traufe auf der Rückseite des Hauses. Wie gut, dass er barfuß war, das half ihm,
sich den Weg zu tasten.
    Dort entdeckte
er ein festes Regenrohr, das direkt zum Dach des Brunnenschachtes führte. Ohne zu
zögern – eine andere Möglichkeit hatte er nicht –, ließ er sich von der Dachrinne
gleiten und rutschte das Rohr hinunter. Schmerzhaft fühlte er die Reibung in den
Händen. Aber es half nichts.
    Unten wäre er
beinahe in einem Haufen Altschrott gelandet, der so aussah, als hätte hier jemand
riesige Dosenöffner gesammelt. Mit ihren gezahnten Bügeln verrosteten eisernen Haifischgebissen
ähnlich. Wäre er da hineingeraten – ging es ihm durch den Kopf –, wäre die Falle
hoffnungslos zugeschnappt.
    Im Haus ging
ein Licht an. Romanowsky war angekommen. Noël konnte ihn durch ein Seitenfenster
beobachten. Plötzlich klingelte sein Handy. Ehe er das Geräusch unterdrücken konnte,
merkte er, dass der Pächter auf ihn aufmerksam geworden war. Seine Entdeckung war
unvermeidbar.
    Nun war guter
Rat teuer. Noël sprang kurzentschlossen auf den Brunnenrand und hangelte

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