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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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war inzwischen hochgestiegen
und bedeckte bereits die Büsche rings um das Jagdschloss. Als ob sich eine unaufhaltsame
Flut anbahnen würde, die sich anschickte, alle Eitelkeiten hier oben zu ertränken.
    Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand
drinnen das junge Paar. Die Gastgeberin, Gräfin von Bülow, schmiegte sich deutlich
an den jugendlich strahlenden Jungherzog. Dessen Eltern schwelgten in Glückseligkeit.
Endlich schien das Standesbewusstsein ihres Sohnes in die rechte Bahn gelenkt zu
sein. Die Eutiner High Society nahm das junge Glück zufrieden zur Kenntnis. Der
Reporter der örtlichen Presse eilte in ein Nebenzimmer, um seine Regenbogenneuigkeiten
noch rechtzeitig in Druck für die morgige Sonntagsausgabe zu geben.
    Die zierliche Pausenglocke musste
mehrfach in Aktion treten. Nur zögerlich kehrten die Konzertbesucher auf ihre Plätze
zurück. Im Grunde genommen war den meisten das Sehen und Gesehenwerden, das Plaudern
und Kokettieren wichtiger als die Musik.
    Ein gelungener Abend, wie sie meinten.
Die perfekte Restauration des Jagdschlösschens, das erlesene Publikum, die schönen
Kleider, das delikate Catering, – noch dazu von der Fürstin gespendet! Und schließlich
konnte man seinen Kunstverstand an den Mann oder die Frau bringen: Eine blinde Pianistin
… So etwas sieht man schließlich nicht alle Tage.
    Die Gräfin rief dezent einen ihrer
Diener. Er solle sich einen Hut besorgen und ein Schild improvisieren: ›Spenden
für das Behindertenheim‹. Damit solle er sich nach dem Konzert an den Ausgang stellen
und um Almosen bitten. So hatte sie eine Legitimation, das Konzert als Benefizveranstaltung
von den Steuern abzusetzen.
    Noël spähte durch das Schlüsselloch.
Als er sich vergewissert hatte, dass die meisten Gäste Platz genommen hatten, gab
er dem Beleuchter ein Zeichen. Dann nahm er Viviana an die Hand und führte sie unauffällig
zum Klavierhocker. Dort saß sie still und bescheiden, und es dauerte eine geraume
Zeit, bis man ihre Rückkehr im Saal bemerkte. Höflich verhaltener Beifall kam auf.
Doch die Pianistin schien ihn überhaupt nicht zu bemerken. Zu sehr war sie auf den
nächsten Satz der Suite konzentriert.
    Zart strich sie mit den Fingerkuppen
über die Tastatur, als liebkose sie einen alten Freund. Und so war es auch. Der
Flügel hatte sich im ersten Teil des Konzertabends als zuverlässig und sensibel
gezeigt. Viviana war es gelungen, das Instrument zu einem Teil ihrer Selbst zu machen.
Es hatte sich zu einem empfindsamen Partner ihrer musikalischen Vorstellung entwickelt.

Kapitel 20:
4. Satz: Die Fasaneninsel
     
    Vivianas Hände formten eine melancholische Melodie, die an die Musik
der weiten russischen Tundra erinnerte. Eine unendlich scheinende Arabeske ohne
Kadenzen, ohne motivische Wiederholungen, ohne wirkliche Höhepunkte. Nach und nach,
kaum bemerkbar, verdichteten sich die Stimmen zu einem polyphonen Gewebe, als wolle
es eines der Waldbilder von Max Ernst zum Leben erwecken.
    Aus den wehmütigen Klängen schälten
sich leichte, knöchelhohe Nebelschwaden heraus, die über die Pflanzen waberten,
als ob der Allmächtige eine Theaternebelmaschine in Gang gesetzt hätte. Nach einer
Weile mündete die Musik in ein Zitat aus Webers Klarinettenkonzert und versöhnte
somit die herbe, weite russische Landschaft mit den ebenso herben, meerumschlungenen
norddeutschen Landstrichen.
    Lag es am Nebel, dass der Eutiner
See samt Schloss und Schlosspark in eine hauchdünne Patina von Unschärfe eingetaucht
schien? Oder trogen Vivianas noch ungeübte Augen? Die Musik verschwamm erneut in
kaum ortbaren Tremoloketten von milchigen Sextakkorden. Keine scharfen Konturen,
keine markante Melodie. Motivfetzen jagten sich wie die feinen Nebeltropfen über
dem Boden.
     
    Das Schloss sah von der Ferne aus wie auf einem
uralten, braunvergilbten Bild aus den Kinderjahren der Fotografie. Viviana und Noël
saßen wie ein altes Liebespaar Arm in Arm unter dem Schutz des Wassertempels, der
nordöstlich wie eine Bastion in den Eutiner See hineinragte, und beobachteten verträumt
den Sonnenaufgang.
    Eine braunrote
Himmelsscheibe schob sich langsam drüben ostwärts, über das Reetdach der Alten Schäferei
empor. Ihre Lichtstrahlen hatten große Mühe, sich durch die Nebelbänke hindurchzuarbeiten.
Die Uferlinien verschwammen, der Horizont verdunstete. So bildete der See den Anblick
einer kaltdiesigen Wasserlandschaft, die in ihrer Undifferenziertheit eher an ein
Meer als an einen Binnensee

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