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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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ein neues Leben anfangen. – Ohne Fremdenhass, ohne
Ballast. – Ohne dich. – Ich ahnte, dass du überlebt hast. – Aber ich wollte es nicht
wahrhaben. – Ich wollte endlich mein Stückchen Glück finden. – Verzeih mir! – Ich
kann nicht mehr. – Ich habe versagt. – Ich bin deiner als Mutter nicht würdig. –
Vergiss mich!«
    Sie löste den
Griff und ließ sich mit dem Strudel des Wasserfalls mitgleiten. Caoba befreite instinktiv
den Andalusier von seiner Fessel. Das Pferd rutschte den Abhang hinunter. Das Letzte,
was Caoba sah, war, dass sich beide Körper – ihre Mutter und das Tier – näher kamen
und im Dunst der Gischt verschwanden.
    Das schwarze
Mädchen zog den Zügel seines Russischen Trabers an, warf sich mit letzter Kraftanstrengung
auf dessen Rücken und vertraute blind dem Instinkt des Tieres. Nach einem mühseligen
Kampf gelang es ihm, den rettenden Höhenrücken von Wüstenfelde zu erreichen.
    Die unerwartete
Begegnung mit der Mutter, die plötzliche Konfrontation mit ihrer Vergangenheit hatte
ihre Seele aus dem Gleis gebracht. Caoba versuchte verzweifelt, die Dinge, die sie
eben erlebte, zu verstehen, einzuordnen. Aber sie fand keine Erklärung. Statt zurück
zur Alten Schäferei zu reiten, lenkte sie ihr Pferd ostwärts. Ihre Spur verlor sich
nach wenigen Sekunden in den unendlichen Nebelmassen.
    Inzwischen hatte
sich der einstige Talkessel so hoch mit Wasser gefüllt, dass selbst die Kirchturmspitze
des ›Tores zum Paradies‹ nicht mehr zu erkennen war.
    Das Unwetter
ließ nach, als ob es seine Pflicht erfüllt hätte. Ruhe kehrte ein. Wenigstens in
die Seelen der Wenigen, die sich ins Jagdschloss hatten retten können. Sie schliefen
erschöpft ein.
    Um Mitternacht
wachten sie wieder auf. Ein seltsames Geräusch brach ein in ihr Unterbewusstein.
Wie von Zauberhand angetrieben, begann unter Wasser die Glocke der Kapelle mit gläsernem
Klang zu läuten, als würde sie die Überlebenden trösten, aber auch gleichzeitig
mahnen wollen.
     
    *
     
    Der See spiegelte sich in Vivianas Augen. Und der Klang war bis in
den Saal hinein zu vernehmen. Die Pianistin hatte dem Klavier einen letzten, einen
obertonreichen, tiefen Ton entlockt. Sie verharrte minutenlang regungslos auf dem
Schemel. Es schien, als wäre die Kirchenglocke dort draußen, unten im Nebel, von
dem Schlussakkord des Klaviers in Resonanzschwingungen versetzt worden.
    Und dann, obwohl der Klavierklang
bereits verebbt war, trat Viviana erneut auf das rechte Fußpedal, ohne aber eine
Taste anzuschlagen. Dabei verschob sich die Saitendämpfung, sodass die Metallstränge
frei schwingen konnten.
    Wie durch Geisterhand reflektierte
sich plötzlich der Klang der Glocke im Konzertflügel. Ganz leise, fast unhörbar.
Aber dennoch so laut, dass es jeder bis in die letzte Reihe hören konnte.
    Das akustische Phänomen schien unendlich
zu dauern. Ganz still wurde es im Publikum. Keiner wagte, die geheimnisvolle Atmosphäre
zu stören. Es schien, als hätte Viviana noch einen letzten Satz hinzukomponiert.
Eine Art Zugabe.
    Dann endlich nahm sie die Hände
von den Tasten und schloss den Deckel. Der Zauberklang fiel gemeinsam mit der Naturkulisse
hilflos in sich zusammen. Die Dunkelheit kehrte in Vivianas Augen zurück.
    Ein Raunen
ging durch den Saal. Es schwoll an, bis es in lautes Beifallklatschen mündete. Noël
sprang auf und half seiner blinden Freundin nach vorne an die Rampe des Podiums.
Die Künstlerin gönnte ihrem Publikum nur eine einzige, schlichte Verbeugung. Dann
verschwanden beide hinter der Bühne.
    Als klar wurde, dass Viviana nicht
bereit war, nochmals nach vorne zu kommen, kletterte die Gräfin auf das Podest,
dankte den Anwesenden für ihre geschätzte Aufmerksamkeit und lud sie zum abschließenden
Büffet ein. Ihr verheißungsvolles Versprechen löste deren steife Konzertattitüde.
Endlich, dachten manche, endlich das, worauf wir uns schon den ganzen Abend gefreut
hatten.
    Es gab Kaviar, Sekt, Wildbret, Eiskonfitüre,
– kurz alles, was ihnen half, die Anstrengungen des Konzertabends zu überwinden.
    Die Gräfin und der Jungherzog bildeten
schnell den Mittelpunkt des Interesses. Kroll hielt sich abseits. Das war nicht
seine Welt. Glamour, Smalltalk, extravagante Kleidung. – Neidisch musterte Micha
die Gesellschaft. Plötzlich stutzte sie. Täuschten ihre Augen, oder stimmte es wirklich?
    Die teuren Modeschuhe der Gräfin
waren nass und schlammverschmiert. Ihr Kleid sah um den Rocksaum herum reichlich
schmutzig und

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