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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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und eilte hinüber zu dem
Einspänner. Überhaupt nicht auf die aus der Kirche fliehenden Menschen achtend,
kappte sie die Zügel des Andalusiers mit Hilfe des scharfen Hirschfängers von der
Deichsel und führte beide Pferde hinter die Kapelle, die vorübergehend ein wenig
Schutz vor dem Unwetter bot.
    Der Dolch flog
in hohem Bogen ins Gras. Caoba wusste, dass sie niemanden töten konnte. – Sie spürte,
dass ihre verletzte Eitelkeit dann unwiderruflich dazu führen würde, dass ihre Psyche
verblasste. Sie wollte ihre Seele nicht verkaufen. Sie sträubte sich, fürderhin
im Schatten ihrer Seele zu leben.
    Die Wassermassen
schwollen rasant an. Der Dolch versank in den braunen Wellen. Schnell wurde Caoba
klar, dass die Flut bald das ganze Tal überschwemmen würde. Sie kannte die Gegend
hier bis in jede kleinste Einzelheit. Sie wusste, dass südlich ein relativ breites
Quertal rüber führte zum Forsthaus Wüstenfelde. Beide Pferde am kurzen Zügel, versuchte
sie, den Bergrücken hinaufzusteigen. Die Tiere hatten einen guten Instinkt und halfen
ihr dabei. So bildeten die drei Lebewesen eine verschworene Gemeinschaft, fest entschlossen,
dem Unwetter zu entfliehen.
    Doch die Hänge
hatten sich zu einem reißenden Wasserfall entwickelt. Es schien unmöglich, die andere
Seite des Quertals zu erreichen. Plötzlich schnaufte der Andalusier nervös und warf
den Kopf zur Seite, als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Caoba bemerkte trotz
der Dunkelheit, dass sich drüben eine Frau verzweifelt an dem Ast eines umgestürzten
Baumes festhielt, um nicht von den wild tosenden Fluten mitgerissen zu werden. Sie
schrie vor Angst, doch das Toben des Gewitters übertönte alles, sodass ihre Mundbewegungen
aussahen wie die Bewegungen einer stummen Marionette.
    Es war die Gräfin.
Der Andalusier hatte ihre Witterung aufgenommen. Das einst so unschuldig weiße Brautkleid
war als solches nicht mehr zu erkennen. Es hatte sich in einen schmutzigen Kartoffelsack
verwandelt. Von der stolzen Adeligen war nicht viel übrig geblieben. Jetzt sah sie
aus wie ein einfaches Straßenmädchen.
    Mit Hilfe der
starken Pferde, die sie mit ihren breiten Rücken deckten, schaffte es Caoba, bis
fast in Reichweite der Frau zu gelangen. Die Schwarze erinnerte sich daran, dass
sie ihrem Pferd heute Morgen ein Lasso an den Sattel angebunden hatte. Es dauerte
eine Ewigkeit, bis es ihr gelang, das Seil zu lösen. Dann setzte sie an, es zu der
Gräfin hinüberzuwerfen.
    »Versuchen Sie,
das Ende zu greifen!«, rief Caoba gegen den Wind.
    Die Frau richtete
sich hoch, hielt sich nur noch mit einer Hand an dem Ast fest und versuchte mit
der anderen, das Tauende zu erwischen. Nach mehreren Versuchen sackte sie, alle
Hoffnung begrabend, in sich zusammen.
    Doch Caoba wollte
nicht aufgeben. Sie schob die Pferde mit Gewalt wider deren Willen vor sich hin
bis tief in den Sturzbach hinein. Die Tiere schnaubten in Todesangst, aber sie wagten
nicht, der resoluten jungen Frau den Gehorsam zu verweigern.
    Endlich konnte
Caoba die Hand der Gräfin fassen. Die Fingerspitzen berührten sich. Da schrie die
aus ihrer Panik erwachende Gräfin auf.
    »Du? – Du bist
es? – Du, meine Tochter?«
    Als das Wort
fiel, brach in Caoba für eine Sekunde alles zusammen, was sie bislang hochhielt.
»Mutter!«, schrie es aus ihr heraus. Ihr wurde überhaupt nicht bewusst, dass sie
plötzlich wieder der Sprache mächtig war. Der Schock und die Anstrengungen ihres
übermenschlichen Lebenskampfes hatten offenbar alle psychologischen Barrieren überwunden
und ihre Zunge gelöst.
    »Mutter, – ich
helfe dir!«, rief sie voller neuer Hoffnung und versuchte deren Handgelenk zu fassen.
Da aber rutschte sie aus und stürzte in den Wasserfall. Die Pferdezügel hielt sie
nach wie vor krampfhaft umklammert. Die klugen Tiere ahnten, dass es jetzt an ihnen
war, das Mädchen zu retten.
    Endlich gelang
es ihnen, Caoba wieder in eine sichere Position zu schleifen. Von hier aus war es
leichter, das Lasso erfolgreich zur Gräfin hinüberzuwerfen. Endlich schafften es
beide, sich mit einem Arm gegenseitig einzuhaken.
    Die Gräfin schrie
durch das Toben der Naturgewalten: »Ich bin deine Mutter! – Ich erkenne dich. –
Ich hatte immer Angst, dir zu begegnen. – Weil ich dich damals verstoßen habe. –
Nach dem Brand in dem Asylantenheim. – Ich wollte nur noch vergessen, mein armseliges
Leben mit deinem Vater vergessen. – Er stammte aus Ghana. – Er hat die Katastrophe
nicht überlebt. – Ich wollte

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