Schattennacht
Klause« wie die anderen Mönche. Er sprach von einem Adytum.
Im Lexikon habe ich entdeckt, dass dies ein Begriff aus der griechischen Antike ist. Er bedeutet »den innersten, der Allgemeinheit verwehrten Ort der Anbetung, das Allerheiligste eines Tempels«.
Der Abt war ein humorvoller Mann, doch das Wort Adytum sprach er nie mit einem Lächeln aus. Die drei Silben kamen ihm immer als ernstes Murmeln oder Flüstern über die Lippen, und in seinen Augen lagen dann Sehnsucht, Verwunderung und möglicherweise auch Angst.
Was die Gründe dafür anging, dass Bruder John den Erfolg und das weltliche Leben gegen Armut und ein Kloster eingetauscht hatte, so hatte er nur gesagt, seine Studien über die Struktur der Realität, die er mithilfe der Quantenmechanik betrieb, hätten ihn zu Erkenntnissen geführt, die ihn demütig gemacht hätten. »Außerdem ist mir unheimlich dabei geworden«, hatte er gesagt.
Während ich nun den Rest des Schokoladenkekses knabberte, fragte er: »Was führt dich zu dieser Stunde, während des großen Schweigens, hierher?«
»Ich weiß, dass Sie die halbe Nacht wach sind.«
»Ich schlafe mit den Jahren immer weniger, weil ich mein Denken einfach nicht abschalten kann.«
Da ich selbst ab und zu unter Schlaflosigkeit litt, hatte ich dafür Verständnis. »In manchen Nächten kommt es mir vor, als würde mein Gehirn jemand anderem als Fernseher dienen, und dieser Typ hört einfach nicht auf, durch sämtliche Sender zu zappen.«
»Und wenn ich doch einnicke«, sagte Bruder John, »dann geschieht das oft zu unpassenden Zeiten. Es gibt Tage, an denen ich ein oder zwei Gebete versäume, manchmal die Matutin und die Laudes, manchmal die Sext oder die Komplet. Selbst die Messe habe ich schon verpasst, weil ich in diesem Sessel hier eingeschlafen war. Der Abt ist verständnisvoll. Selbst der Prior ist allzu nachsichtig mir gegenüber; er erteilt mir ohne Weiteres die Absolution und gibt mir zu wenig Buße auf.«
»Ihre Brüder haben eben viel Achtung vor Ihnen, Sir.«
»Es ist, wie am Strand zu sitzen.«
»Was denn?«, fragte ich, nachdem ich geschickt ein Hä? verschluckt hatte.
»Hier, in den ruhigen Stunden nach Mitternacht. Wie am Strand zu sitzen. Die Nacht rauscht heran, bricht sich und wirft unsere Verluste wie Treibgut in die Luft, alles, was von dem einen oder anderen Schiff noch übrig ist.«
»Ja, so ist es wohl«, sagte ich, weil ich zwar nicht genau begriff, was er meinte, aber doch glaubte, seine Stimmung nachvollziehen zu können.
»Wir untersuchen unablässig die Trümmer in der Brandung,
als könnten wir die Vergangenheit wieder zusammensetzen, doch damit quälen wir uns nur.«
Dieser Gedanke hatte Zähne. Auch ich fühlte seinen Biss. »Bruder John, ich habe eine merkwürdige Frage«, sagte ich.
»Natürlich«, erwiderte er. Damit war offenbar gemeint, dass von mir nur solche Fragen zu erwarten waren.
»Sir, vielleicht klingt diese Frage unverschämt, aber ich habe gute Gründe, sie zu stellen. Besteht eine entfernte Möglichkeit, dass Ihre Arbeit hier … zu einer Explosion oder irgendetwas Ähnlichem führen könnte?«
Er neigte den Kopf und hob eine Hand von der Armlehne seines Sessels, um sich über das Kinn zu streichen. Offenbar dachte er nach.
Obwohl ich ihm dankbar war, dass er mir eine wohlüberlegte Antwort geben wollte, wäre ich glücklicher gewesen, wenn er ohne zu zögern Nein, undenkbar, unmöglich, absurd erwidert hätte.
Bruder John gehörte zu einer langen Tradition kirchlicher Wissenschaftler. Die ersten, im zwölften Jahrhundert gegründeten Universitäten haben sich, so hat man mir erzählt, an die alten Kloster- und Domschulen angeschlossen. Roger Bacon, ein Franziskanermönch, war der wohl größte Mathematiker des dreizehnten Jahrhunderts. Der englische Bischof Robert Grosseteste hat als Erster die für die Durchführung wissenschaftlicher Experimente nötigen Schritte formuliert. Jesuiten haben die ersten Spiegelteleskope, Mikroskope und Barometer konstruiert, haben als Erste die Gravitationskonstante berechnet, die Höhe der Berge auf dem Mond gemessen, eine exakte Methode zur Bestimmung von Planetenumlaufbahnen entwickelt und eine schlüssige Beschreibung der Atomtheorie veröffentlicht.
Soweit mir bekannt war, hatte allerdings keiner dieser Burschen
im Lauf der Jahrhunderte versehentlich ein Kloster in die Luft gesprengt.
Natürlich wusste ich nicht alles. Angesichts der unbegrenzten Menge an Wissen, das man in der fast unübersehbaren
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