Schattennacht
verfolgt zu werden, und dass der am Boden liegende Mönch bei meiner Rückkehr verschwunden war.
»Also wissen wir nicht«, sagte Bruder Knoche, »ob der sich alleine aufgerappelt hat und weggegangen ist oder ob man ihn fortgetragen hat.«
»Wir wissen nicht mal, ob er nur bewusstlos oder tot war.«
»Tot? Das gefällt mir gar nicht.« Der Bruder runzelte die Stirn. »Abgesehen davon macht es keinen Sinn. Wer würde einen Mönch umbringen?«
»Schon richtig, Sir, aber wer würde einen Mönch bewusstlos schlagen?«
Bruder Knoche brütete einen Moment nach. »Es hat mal jemand
einen lutherschen Pfarrer kaltgemacht, aber das ist nicht mit Absicht passiert.«
»Ich glaube nicht, dass Sie mir das erzählen sollten, Sir.«
Mit einer Handbewegung tat er meinen Einwand ab. Seine starken Hände sahen unheimlich knochig aus, daher sein Spitzname.
»Das bin ja nicht ich gewesen. Ich hab dir doch gesagt, dass ich nie so weit gegangen bin. Das glaubst du mir doch, oder, Junge?«
»Ja, Sir. Aber Sie haben gesagt, es wäre nicht mit Absicht passiert.«
»Ich hab auch nie jemanden unabsichtlich umgebracht.«
»Na schön, dann erzählen Sie ruhig weiter.«
Bruder Knoche, früher unter dem Namen Salvatore Giancomo bekannt, war ein gut bezahlter Mafia-Schläger gewesen, bevor Gott ihn auf den rechten Weg gebracht hatte.
»Hab den Leuten die Nase zertrümmert und auch ein paar Beine gebrochen, aber kaltgemacht hab ich keinen.«
Als er vierzig geworden war, hatte Knoche angefangen, über seine bisherige Karriere nachzudenken. Er fühlte sich leer. »Wie ein Ruderboot, das auf dem Meer treibt, ohne dass jemand drinsitzt«, hatte er mir diesen Zustand beschrieben.
Während dieser persönlichen Krise hatte er mit einigen seiner Kollegen eine Weile im Haus von Tony »Schaumschläger« Martinelli übernachtet, seinem Boss. Dabei ging es nicht um eine Pyjamaparty; Martinelli hatte Todesdrohungen erhalten, und die Gäste hatten ihre zwei Lieblingspistolen mitgebracht. Eines Abends war es irgendwie dazu gekommen, dass Knoche der sechsjährigen Tochter des »Schaumschlägers« eine Geschichte vorlas.
In der Geschichte ging es um ein Spielzeug, einen Porzellanhasen, der stolz auf sein Aussehen und äußerst selbstgefällig ist. Als er eine Reihe schrecklicher Missgeschicke erlebt, lernt er,
demütig zu sein, und daraufhin empfindet er auch Mitgefühl für das Leiden anderer.
Die Geschichte war erst zur Hälfte vorgelesen, da schlief das Mädchen ein. Knoche wollte unbedingt wissen, wie die Sache mit dem Hasen weiterging, aber er wollte nicht, dass seine beinharten Kumpane auf die Idee kamen, er hätte tatsächlich Interesse an einem Kinderbuch.
Einige Tage später, als die Gefahr für den »Schaumschläger« vorüber war, ging Knoche in einen Buchladen, um sich die Geschichte zu besorgen. Er fing noch einmal von vorne an, und als er zum Ende kam, wo der Porzellanhase den Weg zu dem kleinen Mädchen, das ihn geliebt hat, zurückfindet, verlor Knoche die Fassung und fing an zu weinen.
Noch nie zuvor hatte er Tränen vergossen. An jenem Nachmittag aber saß er in der Küche des Reihenhauses, in dem er alleine lebte, und schluchzte wie ein Kind.
Zu dieser Zeit hätte niemand, der Salvatore »Knoche« Giancomo kannte, nicht einmal seine Mutter, ihn als nachdenklichen Burschen bezeichnet. Dennoch wurde ihm klar, dass er nicht nur wegen der Heimkehr eines Porzellanhasen weinte. Deswegen weinte er zwar auch, aber es ging offensichtlich noch um etwas anderes.
Eine Weile konnte er sich nicht vorstellen, was dieses Andere war. Er saß am Küchentisch, trank eine Tasse Kaffee nach der anderen, futterte stapelweise von seiner Mutter gebackene Kekse und fand mehrfach seine Fassung wieder, nur um erneut in Tränen auszubrechen.
Irgendwann begriff er dann, dass er um sich selbst weinte. Er schämte sich für den Mann, zu dem er geworden war, und er trauerte um den Mann, der er als Junge hatte werden wollen.
Diese Erkenntnis brachte ihn in einen ernsten Konflikt mit sich selbst. Einerseits wollte er ein harter Bursche bleiben, der
stolz darauf war, stark und unerschütterlich zu sein; andererseits hatte es den Anschein, als wäre er schwach und gefühlsduselig geworden.
Innerhalb des folgenden Monats las er die Geschichte immer wieder. Dabei begriff er allmählich, dass Edward, der Hase, nicht schwächer, sondern stärker wurde, als er die Demut entdeckte und lernte, Verständnis für die Probleme anderer Leute zu haben.
Knoche kaufte ein
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