Schattennacht
nicht gerade toll an. Mir war kalt bis auf die Knochen.
Aus irgendeinem Grund war ich nicht verfolgt worden.
Hätte der Schnee schon eine weiße Decke auf den Boden gebreitet, dann hätte ich mich rücklings hineinlegen und einen Schnee-Engel machen können. Leider waren die Bedingungen für solche Spielereien noch nicht ganz gegeben. Vielleicht später.
Die Abtei war außer Sichtweite. Ich überlegte, aus welcher Richtung ich gekommen war, hatte jedoch keine Angst, mich zu verirren. Das habe ich nämlich noch nie getan.
Nicht ohne meine Rückkehr mit einem unkontrollierbaren Zähneklappern anzukündigen, marschierte ich, einen Stein in jeder Hand, wachsam erst durch die Wiese und dann über das kürzere Gras des Rasens. Inmitten des lautlosen Flockenwirbels ragte die Abtei vor mir auf.
Als ich die Ecke der Bibliothek erreichte, wo ich fast über den am Boden liegenden Mönch gestürzt war, fand ich dort weder Opfer noch Angreifer. Da nicht auszuschließen war, dass der Überfallene zu sich gekommen und verwirrt weggekrochen war,
nur um bald wieder bewusstlos zu werden, suchte ich die nähere Umgebung ab, fand jedoch niemanden.
Die Bibliothek schloss sich direkt an den Gästeflügel an, von dem aus ich vor wenig mehr als einer Stunde aufgebrochen war, um einen Bodach zu verfolgen. Endlich ließ ich die Steine fallen, um die sich meine halb erfrorenen Hände ballten, schloss die Tür zur Hintertreppe auf und stieg in den zweiten Stock hinauf.
Dort, im höchsten Korridor des Hauses, stand die Tür zu meiner kleinen Wohnung offen, wie ich sie hinterlassen hatte. Als ich dort auf den Schnee gewartet hatte, war das Zimmer nur von einer Kerze erleuchtet gewesen, doch nun drang helleres Licht durch die geöffnete Tür.
8
Da es inzwischen nach ein Uhr morgens war, war Bruder Roland, der Gastmeister, wohl kaum damit beschäftigt, das Bettzeug zu wechseln oder eine Portion der »zwei Oxhoft Wein« zu liefern, die der heilige Benedikt als notwendige Ausstattung jedes klösterlichen Gästehauses bestimmt hat, als er im sechsten Jahrhundert seine Ordensregel verfasste.
Nebenbei bemerkt, wurde uns in diesem Kloster gar kein Wein zur Verfügung gestellt. Der kleine Einbaukühlschrank in meinem Badezimmer enthielt lediglich mehrere Dosen Cola und ein paar Flaschen Eistee.
Als ich durch die Tür trat, bereit, »Freund oder Feind?« zu rufen, weil das zur mittelalterlichen Atmosphäre gepasst hätte, fand ich einen Vertreter der erstgenannten Kategorie vor. Am Fenster stand Bruder Knoche, gelegentlich auch Bruder Salvatore genannt, und blickte hinaus auf den fallenden Schnee.
Bruder Knoche nahm seine Umgebung mit äußerst scharfen Sinnen wahr. Er registrierte selbst das leiseste Geräusch und jeden verräterischen Duft, weshalb er in der Welt, in der er vor seiner Mönchsweihe verkehrte, überlebt hatte. Noch während ich schweigend über die Schwelle trat, sagte er: »Du holst dir noch den Tod, wenn du in einer solchen Nacht mit derart dünnen Sachen durch die Gegend latschst.«
»Ich bin nicht gelatscht«, sagte ich und zog hinter mir lautlos die Tür zu, »sondern herumgeschlichen.«
Er wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. »Ich war in der Küche, um ’ne kleine Portion Roastbeef und Provolone zu verdrücken, als ich gesehen hab, wie du die Treppe von Johns Klause hochgekommen bist.«
»In der Küche hat aber kein Licht gebrannt, Sir. Sonst wäre mir das aufgefallen.«
»Die Lampe im Kühlschrank reicht voll aus, um sich ’nen Imbiss zu machen, und futtern kann man dann im Licht von der Uhr an der Mikrowelle.«
»Also haben Sie im Dunkeln die Sünde der Völlerei begangen, ja?«
»Als Kellermeister muss man doch prüfen, ob alles frisch ist, oder etwa nicht?«
In der genannten Funktion war Bruder Knoche dafür verantwortlich, Nahrungsmittel, Getränke und andere materielle Güter für das Kloster und das Internat einzukaufen und auf Lager zu halten.
»Außerdem«, sagte er, »wenn man nachts in ’ner hell erleuchteten Küche, die keine Jalousien hat, ein Sandwich isst, dann kann das leicht das letzte sein.«
»Selbst wenn man als Mönch im Kloster lebt?«
Bruder Knoche zuckte die Achseln. »Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Statt seiner Kutte trug der Bruder einen Trainingsanzug. Nur einen Meter siebzig groß, brachte er neunzig Kilo Knochen- und Muskelmasse auf die Waage und sah in seinem Outfit aus wie eine mit grauem Flanell überzogene Dampfmaschine.
Die wässrigen Augen, die bullige
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