Schattennacht
sicher, gleich einen Schlag über den Schädel zu bekommen.
Doch ich war allein.
Trotz des Beweises, den mir meine Augen lieferten, hatte ich jedoch nicht das Gefühl , allein zu sein. Ich fühlte mich beobachtet, ja mehr noch: verfolgt.
Ein Geräusch im Sturm, aber nicht vom Sturm erzeugt, ein Heulen, das etwas anderes war als die schrille Klage des Windes, näherte sich, zog sich zurück, näherte sich wieder und zog sich erneut zurück.
Im Westen stand die Abtei, durch unzählige, sich ständig verändernde Schleier kaum noch sichtbar. Weiße Wehen verhüllten ihren Sockel, vom Wind an den Stein gepresster Schnee löschte Teile der mächtigen Mauern aus. Der Glockenturm wurde nach oben hin immer schemenhafter, als würde er sich auflösen, und die Spitze mit dem Kreuz war gar nicht zu erkennen.
Das im Osten hangabwärts stehende Internat war so verschwommen wie ein im Nebel segelndes Geisterschiff, weniger sichtbar als angedeutet, ein bleicher Schatten im weniger bleichen Wirbel des Blizzards.
Selbst wenn jemand in einem der beiden Gebäude am Fenster
stand, konnte er mich auf diese Entfernung bei diesem Wetter nicht sehen. Mein Schrei würde im Wind verhallen.
Wieder erhob sich das Heulen, gierig und erregt.
Ich drehte mich im Kreis, um festzustellen, woher das Geräusch kam. Rings um mich herum trieben Schleier aus fallenden Flocken und Wolken bereits gefallenen Schnees, der vom Boden aufstob. Zudem täuschte das trübe Licht.
Obgleich ich mich nur ein einziges Mal gedreht hatte, war das Internat samt dem unteren Teil der Wiese nun völlig verschwunden. Schräg über mir schimmerte die Abtei wie ein Bild, das man auf einen durchsichtigen, wogenden Vorhang gemalt hatte.
Weil ich mit den Toten lebte, war meine Toleranz für das Makabre so hoch, dass mir nur selten unheimlich wurde. Dieses Geräusch, teils Kreischen, teils Jaulen und teils Summen, war jedoch so absonderlich, dass meine Fantasie kein Wesen heraufbeschwören konnte, das so etwas hervorbrachte. Es ging mir durch Mark und Bein.
Zögernd machte ich einen Schritt in die Richtung, in der sich das Internat befinden musste, blieb jedoch sofort stehen und tat den Schritt wieder zurück. Ich drehte mich um, wagte es jedoch auch nicht, wieder auf die Abtei zuzugehen. Vom Unwetter getarnt, war da ein Wesen mit einer fremdartigen Stimme voller Zorn und Not, und dieses Wesen schien mich zu erwarten, egal, in welche Richtung ich ging.
14
Ich löste den Klettverschluss und schob die gefütterte Kapuze meiner Jacke zurück. Dann reckte ich den Kopf, drehte ihn zu beiden Seiten und legte ihn schief, um zu bestimmen, aus welcher Richtung der Schrei kam.
Eisiger Wind zerzauste mir das Haar und bestäubte es mit Schnee, knuffte meine Ohren und brachte sie zum Brennen.
Inzwischen hatte der Blizzard jeden Zauber verloren. Die Anmut des fallenden Schnees hatte sich in eine schroffe Wildheit verwandelt, in einen wirbelnden Mahlstrom, der so roh und beißend war wie menschlicher Zorn.
Ich hatte den merkwürdigen, mir völlig unerklärlichen Eindruck, dass die Realität sich verschoben hatte dort unten, zwanzig Zehnerpotenzen unterhalb der Ebene eines Protons. Dadurch war nichts mehr, wie es vorher gewesen war, nichts, wie es sein sollte.
Selbst ohne Kapuze konnte ich den Ursprung des unheimlichen Heulens nicht lokalisieren. Gut möglich, dass der Wind das Geräusch verzerrte und verschob, aber vielleicht schien es auch deshalb von allen Seiten zu kommen, weil mehr als ein kreischendes Wesen durch den schneeblinden Morgen schlich.
Die Vernunft sagte mir, dass das, was mich verfolgte, zur mich umgebenden Bergwelt gehören musste, aber die Stimme klang weder wie ein Wolf noch wie ein Puma. Die Bären wiederum lagen
im Winterschlaf in ihren Höhlen und träumten von Obst und Honig.
Ich gehöre nicht zu den Leuten, die gerne eine Schusswaffe tragen. Wegen der speziellen Zuneigung, die meine Mutter für ihre Pistole empfindet, und wegen der Selbstmorddrohungen, mit denen sie mich als Kind unter der Fuchtel gehalten hat, ziehe ich andere Formen der Selbstverteidigung vor.
Im Lauf der Jahre habe ich – manchmal nur knapp – in kritischen Situationen überlebt, indem ich eine ganze Reihe Waffen wirksam eingesetzt habe: Fäuste, Füße, Knie, Ellbogen, einen Baseballschläger, eine Schaufel, ein Messer, eine Gummischlange, eine echte Schlange, drei teure antike Porzellanvasen, etwa vierhundert Liter geschmolzenen Teer, einen Eimer, einen Schraubenschlüssel, ein
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