Schattennacht
fallenden Schnee. Mit den Händen klopfte er Rhythmen aufs Fensterbrett, ohne einen Laut zu machen.
Später gingen wir ins Empfangszimmer an der Vorderseite der Abtei, um festzustellen, wie weit die Durchsuchung der Gebäude fortgeschritten war.
Der Raum strahlte eine schäbige Eleganz aus, wie man sie im Foyer kleiner Hotels vorfindet. Momentan war niemand anwesend.
Als ich auf die Eingangstür zuging, wurde sie aufgerissen, und Bruder Rafael kam herein, umgeben von einem Wirbel glitzernden Schnees. Der Wind ließ seine Kutte flattern und heulte wie eine in der Hölle gestimmte Orgel. Gegen erheblichen Widerstand zog der Bruder die Tür wieder zu. Der wirbelnde Schnee senkte sich zu Boden, während der Wind draußen gedämpft weiterstöhnte.
»Furchtbar, nicht wahr?«, sagte er zu mir. Seine Stimme bebte vor Kummer.
Kroch da ein kaltes, vielbeiniges Etwas unter meiner Kopfhaut den Nacken hinunter? »Haben die Polizisten Bruder Timothy denn gefunden?«, fragte ich.
»Nein, das haben sie nicht, aber sie sind trotzdem wieder abgefahren. « Seine großen braunen Augen waren vor Ungläubigkeit
so stark geweitet, dass mir eine Eule in den Sinn kam. »Sie sind einfach abgefahren !«
»Was haben sie dazu gesagt?«
»Wegen des Blizzards haben sie zu wenig Personal. Es gibt massenhaft Autounfälle, deshalb müssen sie dafür mehr Leute abstellen als üblich.«
Während Elvis dieser Erklärung lauschte, nickte er bedächtig. Offenbar hatte er Verständnis für die Polizei.
Zu Lebzeiten hatte er sich erfolgreich bemüht, von verschiedenen Polizeibehörden – zum Beispiel vom Büro des Sheriffs von Shelby County, Tennessee – Dienstmarken zu erhalten, die ihm nicht nur ehrenhalber verliehen wurden, sondern ihn als »Special Deputy« auswiesen. Unter anderem erhielt er damit das Recht, eine versteckte Waffe zu tragen. Er war immer stolz auf sein gutes Verhältnis zum Arm des Gesetzes.
Als er an einem Abend im März 1976 auf der Interstate 240 Zeuge eines Autounfalls wurde, bei dem zwei Fahrzeuge beteiligt waren, zeigte er seine Dienstmarke und half den Betroffenen, bis die Polizei eintraf. Glücklicherweise hat er nie jemanden versehentlich erschossen.
»Haben sie denn sämtliche Gebäude durchsucht?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Bruder Rafael. »Die Höfe und den Garten auch. Aber was ist, wenn er einen Spaziergang im Wald gemacht hat und ihm dabei etwas zugestoßen ist? Er kann ja hingefallen sein und liegt jetzt womöglich hilflos im Dunkeln!«
»Manche der Brüder gehen tatsächlich gern im Wald spazieren«, sagte ich, »aber nicht Bruder Timothy, und schon gar nicht mitten in der Nacht.«
Darüber dachte Bruder Rafael ein Weilchen nach, dann nickte er. »Bruder Tim ist furchtbar … unbeweglich.«
Den verschwundenen Bruder in der jetzigen Lage als unbeweglich zu bezeichnen, bedeutete womöglich eine ziemlich breite
Definition des Begriffs, der die endgültige Unbeweglichkeit mit einschloss – den Tod.
»Wenn er nicht draußen im Wald ist, wo ist er dann?«, grübelte Bruder Rafael. Ein ärgerlicher Ausdruck trat in sein Gesicht. »Die Polizisten verstehen uns überhaupt nicht. Sie haben keine Ahnung, wer wir sind. Stell dir vor, sie haben gesagt, er ist womöglich einfach für eine Weile abgehauen!«
»Ohne Erlaubnis? Das ist doch lächerlich.«
»Schlimmer. Es ist eine Beleidigung«, erklärte Rafael zornig. »Einer von denen hat gesagt, vielleicht ist Tim nach Reno gefahren, um sich an den Spieltisch zu setzen und mal einen Whisky zu kippen!«
Wenn einer von Wyatt Porters Leuten in Pico Mundo so etwas gesagt hätte, dann hätte der Chief ihn ohne Bezahlung eine Zeit lang in Urlaub geschickt oder ihn, je nach seiner Reaktion auf die fällige Standpauke, sogar gefeuert.
Die Mahnung von Bruder Knoche, ich solle mich gegenüber der hiesigen Polizei bedeckt halten, war offenbar ein kluger Rat gewesen.
»Was sollen wir nur tun?«, fragte Bruder Rafael sorgenvoll.
Ich schüttelte wortlos den Kopf, denn eine Antwort hatte ich nicht parat.
Während er aus dem Raum eilte, wiederholte er noch einmal »Was sollen wir nur tun?«, doch diese Worte waren eher an ihn selbst als an mich gerichtet.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und trat dann an eines der Fenster neben dem Hauseingang.
Elvis glitt durch die geschlossene Tür und stellte sich draußen in den dichten Schneefall. In seinem schwarzen Flamencokostüm mit dem roten Kummerbund gab er eine markante Gestalt ab.
Es war zwanzig vor acht.
Nur
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