Schattennacht
handelte es sich nicht um eine Nachtszene. Es war eine Morgenszene, bei der Schnee fiel. Wenn das Leben tatsächlich das Kino imitierte, dann war wohl nichts Schlimmeres zu erwarten,
als dass jemand »White Christmas« oder eine ähnliche Schnulze anstimmte.
An der Außenseite der Fensterscheiben hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet. Ich sah etwas, das sich draußen bewegte, doch das war nicht mehr als ein verschwommener weißer Fleck, eine formlose Gestalt, ein blasses, zitterndes Wesen.
Mit zusammengekniffenen Augen drückte ich die Nase ans kalte Glas.
Links von mir hörte der Türknauf auf zu klappern.
Ich hielt einen Moment den Atem an, damit das Fenster nicht noch weiter beschlug.
Der Besucher auf der Treppe sprang vorwärts und prallte ans Glas, als wollte er zu mir hereinschauen.
Ich zuckte zusammen, wich jedoch nicht zurück. Die Neugier hatte mich völlig gelähmt.
Die Eisschicht maskierte den Besucher weiterhin, obwohl er sich beharrlich an die Scheibe drückte. Wäre da draußen allerdings ein Gesicht gewesen, so hätte ich wenigstens die Augenhöhlen und eine Art Mund sehen müssen, doch das tat ich nicht.
Das, was ich wirklich sah, begriff ich nicht. Wieder hatte ich den Eindruck von Knochen, aber es waren nicht die Knochen irgendeines mir bekannten Tieres. Länger und breiter als Finger, waren sie wie Klaviertasten aufgereiht, jedoch nicht gerade, sondern schlangenförmig, und sie wanden sich durch weitere Knochenreihen. Verbunden waren sie offenbar durch verschiedenartige Knöchel und Gelenke, die selbst durchs Eis hindurch eine äußerst merkwürdige Form erkennen ließen.
Plötzlich verbog sich dieses makabre Gebilde, das den gesamten Fensterrahmen ausfüllte. Mit einem leisen Klicken und Rasseln, das sich anhörte, als rollten tausend Würfel über den Filz eines Spieltischs, verlagerten sich alle Elemente wie die Fragmente
in einem Kaleidoskop und bildeten ein neues Muster, das noch erstaunlicher war als das bisherige.
Ich lehnte mich gerade so weit vom Fenster zurück, dass ich das ganze komplexe Mosaik vor Augen hatte. Es strahlte eine kalte Schönheit aus, die furchterregend wirkte.
Die Gelenke, mit denen die Knochenreihen verbunden waren, falls es sich überhaupt um Knochen handelte und nicht um von Chitin umhüllte Insektenglieder, ermöglichten offenbar eine Drehung um dreihundertsechzig Grad auf mehr als einer Bewegungsebene.
Mit dem Geräusch rollender Würfel auf Filz veränderte das Kaleidoskop sich erneut. Das komplexe Muster, das entstand, war genauso gespenstisch schön wie das vorherige, jedoch eine Spur bedrohlicher.
Ich hatte den deutlichen Eindruck, dass die Gelenke zwischen den Knochen nicht nur auf mehreren, sondern auf vielen, wenn nicht gar zahllosen Ebenen frei rotieren konnten. Das war natürlich nicht nur biologisch, sondern auch rein mechanisch unmöglich.
Vielleicht, um mich zu verspotten, veränderte sich das Schauspiel bereits wieder.
Ja, ich habe die Toten gesehen, die tragischen Toten und die törichten Toten, die vor Hass verweilenden Toten und die Toten, die durch Liebe an diese Welt gekettet sind. Sie unterscheiden sich voneinander, aber eines ist ihnen gemein: Sie sind unfähig zu akzeptieren, wo sie innerhalb der universellen Ordnung eigentlich hingehören. Deshalb können sie sich von dem Ort, an dem sie sich befinden, in keiner Richtung fortbewegen, weder auf ein besseres Jenseits noch auf die ewige Leere zu.
Außerdem habe ich Bodachs gesehen, was immer diese Wesen auch sein mögen. Was sie betrifft, habe ich mehr als eine
Theorie entwickelt, kenne jedoch keine einzige Tatsache, mit der ich eine dieser Theorien stützen könnte.
Geister und Bodachs, das ist alles. Ich sehe weder Feen noch Elfen, weder Kobolde noch Klabautermänner, weder Dryaden noch Nymphen oder Faune, weder Vampire noch Werwölfe. Schon vor langer Zeit habe ich aufgehört, am Weihnachtsabend Ausschau nach dem Weihnachtsmann zu halten, denn als ich fünf war, hat meine Mutter mir erklärt, der sei ein übler Perversling, der mir mit einer Schere meinen Pullermann abschneiden würde. Wenn ich nicht aufhörte, ständig von ihm zu plappern, würde er mich mit Sicherheit auf seine Liste setzen und bald besuchen.
Danach war Weihnachten nie mehr wie vorher, aber zumindest besitze ich noch meinen Pullermann.
Obwohl meine Erlebnisse mit übernatürlichen Wesen also auf Tote und Bodachs begrenzt zu sein scheinen, kam mir das Ding, das sich ans Fenster drückte, eher
Weitere Kostenlose Bücher