Schattennacht
als das Wetter, aber das stimmt nicht. Nimm das Wetter einfach an, Kind, dann wirst du das Gleichgewicht der Welt begreifen.«
Ich war einundzwanzig, hatte das Elend eines gleichgültigen Vaters und einer feindseligen Mutter erlebt, hatte den Menschen verloren, den ich am meisten liebte, hatte aus Notwehr und um das Leben Unschuldiger zu retten, mehrere Männer getötet und in Pico Mundo viele liebe Freunde zurückgelassen. All dies hätte eigentlich dazu führen müssen, dass ich ein Blatt war, auf dem die Vergangenheit deutlich lesbar ihre Spuren hinterlassen hatte, und dennoch glaubte Schwester Maria Clara einen Grund zu haben, mich – und nur mich – Kind zu nennen. Manchmal hoffte ich, sie besäße irgendein Verständnis, das mir fehlte, aber meistens
hielt ich das für einen Beweis, dass sie ebenso naiv wie lieb war und mich überhaupt nicht kannte.
»Nimm das Wetter an«, wiederholte sie, »aber hinterlasse bitte keine Pfütze auf dem Boden.«
Diese Ermahnung schien besser für jemand wie Boo zu passen als für mich. Dann sah ich, dass meine Stiefel von Schnee verkrustet waren, der nach und nach schmolz und den Steinboden nass machte.
»Oh. Tut mir leid, Schwester.«
Als ich meine Jacke auszog, hängte die Schwester sie an die Garderobe, und als ich aus den Stiefeln schlüpfte, hob sie diese auf, um sie, wie ich meinte, auf die Gummimatte darunter zu stellen.
Während sie mit den Stiefeln beschäftigt war, zog ich den Saum meines Pullovers über den Kopf, um damit mein nasses Haar und mein Gesicht abzutrocknen.
Ich hörte die Tür aufgehen und den Wind jaulen.
Entsetzt zog ich den Pullover wieder nach unten und sah Schwester Maria Clara auf der Schwelle stehen. Sie sah nun weniger wie ein Hase als wie ein durch die Arktis fahrendes Segelschiff aus, während sie kräftig meine Stiefel gegeneinanderschlug, um den Schnee abzuklopfen.
Der Blizzard hinter ihr sah aus, als wollte er das Internat, die Abtei und den Wald dahinter umblasen, wenn nicht gar alles auf der Erdoberfläche, das es wagte, aufrecht zu stehen, damit es mit solchen Dingen ein für alle Mal vorbei war.
Ich stürzte auf die Tür zu, doch noch bevor ich eine Warnung brüllen konnte, trat Schwester Maria Clara von der Schwelle zurück.
Weder ein Dämon noch ein Staubsaugervertreter tauchte im eisigen Sturm auf, bevor ich die Tür zudrückte und wieder abschloss.
»Puh«, sagte ich, während sie die Stiefel endlich auf die Matte stellte. »Das war keine gute Idee, die Tür aufzumachen. Moment, ich hole einen Mopp und wische auf.«
Ich hörte mich so zittrig an, als hätte ich einmal eine schlimme Erfahrung mit einem Mopp gemacht und müsste allen Mut zusammenraffen, um wieder so ein Ding in die Hand zu nehmen.
Glücklicherweise schien die Schwester mein Zittern nicht zu bemerken. »Das wirst du schön bleiben lassen«, sagte sie mit sonnigem Lächeln.» Du bist schließlich Gast hier. Wenn ich dich meine Arbeit tun lasse, muss ich mich ja schämen.«
Ich zeigte auf den Schneematsch, der auf dem Boden schmolz. »Aber ich bin schuld an dem Schlamassel!«
»Das ist kein Schlamassel, Kind.«
»In meinen Augen schon.«
»Das ist das Wetter! Und es ist meine Arbeit. Außerdem will die Mutter Oberin mit dir sprechen. Sie hat in der Abtei angerufen, und dort hat man ihr gesagt, du wärst rausgegangen und kämst vielleicht hierher, und da bist du schon. Sie ist in ihrem Büro.«
Ich sah ihr dabei zu, wie sie einen Mopp aus dem Schrank neben der Tür holte.
Als sie sich umdrehte und feststellte, dass ich immer noch da war, scheuchte sie mich mit einer kleinen Handbewegung fort. »Los, husch, frag jetzt die Mutter Oberin, was sie von dir will!«
»Sie werden doch nicht etwa die Tür aufmachen, um den Mopp draußen auszuwringen, Schwester?«
»Ach, das ist wohl nicht nötig. Ist ja nur eine kleine Pfütze Wetter, das hereingekommen ist.«
»Und Sie werden die Tür auch nicht aufmachen, um den herrlichen Blizzard zu bewundern, oder?«, fragte ich.
»Es ist tatsächlich ein fantastischer Tag, nicht wahr?«
»Fantastisch«, stimmte ich ohne Begeisterung zu.
»Wenn ich vor der None und dem Rosenkranz mit meiner Arbeit fertig bin, nehme ich mir vielleicht etwas Zeit fürs Wetter.«
Die None war das Nachmittagsgebet um zwanzig nach vier, also in über sechseinhalb Stunden.
»Gut. Kurz vor der None, das ist bestimmt eine gute Zeit, um den Sturm zu bewundern. Viel besser als jetzt.«
»Zum Beispiel könnte ich mir eine Tasse heiße
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