Schattennacht
übernatürlich als real vor. Ich hatte keine Ahnung, was es sein mochte, war mir jedoch einigermaßen sicher, dass Ausdrücke wie Ungeheuer oder Dämon besser passten als das Wort Engel .
Egal, ob dieses Ding nun aus Knochen oder aus Ektoplasma bestand, es hatte etwas mit der Gewalttat zu tun, von der die Nonnen und die von ihnen betreuten Kinder bedroht waren. Um das zu erraten, musste man kein Sherlock Holmes sein.
Jedes Mal, wenn die Knochen sich verlagerten, kratzten sie offenbar ein wenig Eis vom Glas, denn das jetzige Mosaik war klarer als seine Vorgänger. Die Kanten der Knochen waren schärfer zu sehen, die Form der Gelenke ein wenig stärker ausgeprägt.
Um die Erscheinung besser zu begreifen, beugte ich mich wieder näher zum Fenster und studierte die befremdlichen Einzelheiten dieser unheimlichen Osteografie.
Nichts, was übernatürlichen Ursprungs war, hat mir je etwas
angetan. Für die Wunden, die mir zugefügt wurden, und für den Tod der Menschen, die ich verloren habe, waren immer Menschen verantwortlich. Manche von ihnen haben runde Filzhüte getragen, die meisten jedoch nicht.
Keines der vielen Elemente des Knochenmosaiks zitterte, und dennoch hatte ich den Eindruck, dass sie unter einer starken Spannung standen.
Obwohl ich den Atem direkt ans Fenster hauchte, beschlug die Scheibe nicht. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich nur flach atmete.
Dennoch kam mir in den Sinn, mein Atem enthalte keine Wärme und sei zu kalt, um eine Spur auf dem Glas zu hinterlassen. Damit verbunden war der Eindruck, ich würde mitsamt der Luft Dunkelheit einatmen, diese jedoch nicht wieder ausatmen, was selbst für mich eine merkwürdige Vorstellung war.
Ich streifte meine Handschuhe ab, schob sie in die Jackentasche und legte behutsam eine Handfläche ans kalte Glas.
Wieder fächerten die Knochen sich knackend auf und arrangierten sich neu, als würde ein Kartenspiel gemischt.
Von der Außenseite des Fensters schälten sich Eisspäne ab.
Die neue Anordnung der Knochen drückte offenbar ein urtümliches Bild des Bösen aus, das mein Unterbewusstsein ansprach, denn nun sah ich keinerlei Schönheit mehr. Ich fühlte mich, als wäre ein Tierchen mit einem dünnen, zuckenden Schwanz an meinem Rückgrat hinabgerutscht.
Meine Neugier hatte sich erst in eine wenig gesunde Faszination verwandelt, und diese war inzwischen zu etwas noch Dunklerem geworden. Ich fragte mich, ob ich von einem geheimnisvollen Bann gefesselt war, doch das war wohl nicht möglich, wenn ich noch in der Lage war, darüber nachzudenken. Etwas war jedoch eindeutig mit mir geschehen, denn ich überlegte doch tatsächlich, wieder aus der Tür zu treten, um die Kreatur da draußen
ohne die hinderliche Schranke aus Eis und Glas in Augenschein zu nehmen.
Ein splitterndes Geräusch entstand. Es kam von den hölzernen Sprossen zwischen den Fensterscheiben. Ich sah, wie sich auf dem weißen Lack, der das Holz schützte, ein feiner Riss bildete und sich einen unregelmäßigen Weg bahnte, erst an einer senkrechten und dann an einer waagrechten Sprosse entlang.
Unter der Hand, die ich noch immer ans Fenster drückte, entstand ein Sprung.
Das scharfe Knacken des berstenden Glases ließ mich zusammenzucken und brach den Bann. Ich riss die Hand weg und wich drei Schritte vom Fenster zurück.
Nichts geschah. Die gesprungene Scheibe blieb zwischen den Fenstersprossen.
Das Ding aus Knochen oder Ektoplasma regte sich erneut und nahm eine wieder andere, aber nicht weniger bedrohliche Form an. Es kam mir vor, als suchte es eine neue Anordnung seiner Elemente, mit der es stärkeren Druck auf das widerspenstige Fenster ausüben konnte.
Obwohl es sich ständig von einem unheilvollen Mosaik in ein anderes verwandelte, war der Übergang durchaus elegant und so ökonomisch wie die Bewegungen einer effizienten Maschine.
Das Wort Maschine , das mir gerade in den Sinn gekommen war, ließ mich aufhorchen. Es kam mir wichtig vor, wenngleich ich wusste, dass es sich nicht um eine Maschine handeln konnte. Wenn schon diese Welt keine biologische Struktur hervorbringen konnte wie die, vor der ich da angstvoll stand – und das konnte sie nicht –, dann besaß bestimmt auch kein Mensch das Wissen, um eine Maschine mit solch phänomenaler Geschicklichkeit zu konstruieren.
Das aus dem Sturm gekommene Ding verwandelte sich wieder. An dem neuesten kaleidoskopischen Wunder aus Knochen
wurde klar, dass keine zwei Formen dieses Wesens identisch sein würden, so wie seit
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