Schattennacht
Schokolade machen und mich in einer Küchenecke gemütlich ans Fenster setzen, um hinauszuschauen.«
»Aber nicht zu nah ans Fenster«, sagte ich.
Ihre rosige Stirn legte sich in Falten. »Warum denn nicht, Kind?«
»Der Luftzug. Man soll doch nicht im Zug sitzen.«
»Ein guter Luftzug ist was Feines!«, versicherte sie mir fröhlich. »Egal, ob er kalt oder warm ist, es ist nur Luft, die in Bewegung ist und zirkuliert. Deshalb ist es gesund, sie einzuatmen.«
Ich ging davon, während sie sich ans Wischen machte.
Falls irgendein Scheusal durch das Fenster mit der gesprungenen Scheibe kam, konnte Schwester Maria Clara ja den Mopp wie eine Keule schwingen. Möglicherweise hatte sie die Technik und genügend Kampfkraft, um das Biest zur Strecke zu bringen.
17
Auf dem Weg zum Büro der Mutter Oberin kam ich am großen Aufenthaltsraum vorbei, wo eine Schar Nonnen die Kinder beim Spielen betreute.
Manche der Kinder hatten schwere körperliche Behinderungen, die mit einer leichten geistigen Behinderung verbunden waren. Sie mochten Brett- und Kartenspiele, Puppen, Spielzeugsoldaten. Sie konnten selbst einen Kuchen verzieren und beim Puddingmachen helfen, und sie bastelten gern. Sie freuten sich, wenn man ihnen vorlas, wollten selber lesen lernen, und die meisten lernten das auch.
Andere hatten entweder leichte oder schwere körperliche Behinderungen, waren jedoch geistig deutlich stärker beeinträchtigt als die erste Gruppe. Manche von diesen, zum Beispiel Justine in Zimmer 32, schienen nicht recht bei uns zu sein, obgleich die meisten ein reiches Innenleben hatten, das oft gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartete, zum Vorschein kam.
Die zwischendrin, die weder so abwesend waren wie Justine noch so intensiv am Leben der Außenwelt teilnahmen wie die anderen, modellierten gern mit Ton, fädelten Perlen auf, um ihren eigenen Schmuck zu basteln, spielten mit Plüschtieren und übernahmen kleine Aufgaben, um den Schwestern zu helfen. Auch sie hörten gern zu, wenn man ihnen Geschichten vorlas, die zwar ein wenig einfacher waren, aber das änderte nichts daran, dass die Magie von Geschichten auf sie wirkte.
Was alle von ihnen mochten, ungeachtet ihrer Beschränkungen, war Zuneigung. Bei jeder Berührung, jeder Umarmung, jedem Kuss auf die Wange und jedem anderen Beweis dafür, dass man sie schätzte, achtete und an sie glaubte, blühten sie auf.
Später am Tag würden sie in einem der beiden Rehabilitationsräume an der Physiotherapie teilnehmen, um sich zu kräftigen und ihre Beweglichkeit zu verbessern. Wer Mühe hatte, mit anderen Menschen zu kommunizieren, erhielt Sprachtherapie. In manchen Fällen bestand die Therapie auch darin, verschiedene Aufgaben zu erlernen, zum Beispiel, sich selbst anzuziehen, die Uhr zu lesen, zu bezahlen und mit einem kleinen Taschengeld umzugehen.
Spezielle Fälle sollten das Internat später, wenn sie achtzehn oder älter waren, verlassen, um mit der Unterstützung von Assistenzhunden oder Betreuern ein relativ selbstständiges Leben zu führen. Weil viele der Kinder jedoch sehr stark behindert waren, hätte die Welt sie nie willkommen geheißen, weshalb dieser Ort ihre lebenslange Heimat war.
Unter den Bewohnern waren weniger Erwachsene, als zu erwarten gewesen wäre. Sie hatten in ihrer Kindheit schrecklichen Schaden erlitten, die meisten schon durch Fehlbildungen im Mutterleib, manche durch Gewalt, die ihnen als Kleinkind widerfahren war. Sie waren zerbrechlich, und wenn sie ein Alter von zwanzig Jahren erreichten, war das lang für sie.
Man hätte meinen können, es wäre traurig gewesen zuzusehen, wie sie sich mit verschiedenen Therapiemaßnahmen abmühten, wo sie doch wahrscheinlich jung sterben würden. Das war jedoch überhaupt nicht der Fall. Über ihre kleinen Triumphe waren sie so begeistert wie ein Athlet über einen Sieg beim Marathonlauf. Sie erlebten Augenblicke unverfälschter Freude, sie konnten staunen und sie hatten Hoffnung. Ihr Geist ließ sich
nicht anketten. In den Monaten, die ich sie nun kannte, hatte ich nie gehört, wie auch nur ein einziges Kind sich beklagte.
Durch den medizinischen Fortschritt der letzten Zeit waren in Institutionen wie dieser inzwischen weniger Kinder untergebracht, die an schwerer zerebraler Kinderlähmung, Toxoplasmose oder gut erforschten Chromosomenabweichungen litten. Stattdessen lebten hier Kinder, deren Mütter es selbst in den neun Monaten der Schwangerschaft nicht geschafft hatten, auf Drogen wie Kokain, Ecstasy
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