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Schattennacht

Schattennacht

Titel: Schattennacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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durfte, während andere da waren und eine Glocke geläutet hat.«
    »Hab nie gesehen, wo die Glocke geläutet hat«, zitierte Schwester Miriam. »Sie bewegt das Meer, deshalb ist da, wo die Glocke geläutet hat, was Neues.«
    »Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Die Asche seiner Mutter wurde auf See bestattet. Als man sie verstreut hat, wurde eine Glocke geläutet, und davon hat man Jacob erzählt.«
    Im Kopf hörte ich seine Stimme: Jacob hat bloß Angst, dass er falsch wegtreibt, wenn das Dunkle kommt.

    »Aha.« Ein wenig fühlte ich mich jetzt doch wie Sherlock Holmes. »Er ist besorgt, weil er die Stelle nicht kennt, wo ihre Asche verstreut wurde, und da er weiß, dass das Meer ständig in Bewegung ist, hat er Angst, seine Mutter nicht finden zu können, wenn er stirbt.«
    »Der arme Junge! Ich habe ihm schon tausendmal gesagt, sie ist im Himmel, und eines Tages werden sie dort wieder zusammen sein, aber das Bild, wie sie im Meer wegtreibt, ist offenbar zu lebhaft, um sich von so etwas zerstreuen zu lassen.«
    Am liebsten wäre ich sofort in sein Zimmer zurückgegangen, um ihn zu umarmen. Mit einer Umarmung kann man zwar nichts wiedergutmachen, aber zumindest macht man es nicht schlimmer.
    »Wer ist der Nimmerwar?«, fragte ich. »Vor dem hat er nämlich Angst.«
    Schwester Miriam runzelte die Stirn. »Den Ausdruck habe ich von ihm noch nie gehört. Der Nimmerwar?«
    »Jacob sagt, er wäre voll vom Schwarzen gewesen, und …«
    »Vom Schwarzen?«
    »Ich weiß nicht, was er damit meint. Jedenfalls sagt er, als er voll vom Schwarzen gewesen wäre, da wäre der Nimmerwar gekommen und hätte gesagt: Lasst ihn sterben. Das wäre lange vor dem Meer und der Glocke und dem Wegtreiben gewesen.«
    »Das heißt, bevor seine Mutter gestorben ist«, folgerte Schwester Miriam.
    »Ja, genau. Aber trotzdem hat er noch immer Angst vor dem Nimmerwar.«
    Sie richtete wieder ihre Luchsaugen auf mich, als würde sie hoffen, meine Wolke aus Geheimnissen damit durchstechen und zum Platzen bringen zu können wie einen Luftballon. »Wieso interessierst du dich eigentlich so für Jacob, Oddie?«
    Ich konnte ihr nicht sagen, dass meine tote Liebste, meine Stormy, von der anderen Seite aus Kontakt mit mir aufgenommen
und mir über Justine mitgeteilt hatte, dass Jacob Informationen über das Unheil besaß, das bald, vielleicht schon vor der Morgendämmerung, über das Internat hereinbrechen würde.
    Na gut, ich hätte es ihr wohl schon sagen können, aber ich wollte nicht riskieren, dass sie mir meine Unterlippe herunterzog, weil sie erwartete, darin die Warnung Achtung: geisteskrank! vorzufinden.
    »Wegen seiner Zeichnungen«, antwortete ich daher. »Wegen der Porträts an seinen Wänden. Ich habe mir schon gedacht, dass sie womöglich seine Mutter darstellen. Sie sind so liebevoll, und da habe ich mich gefragt, wie es wohl ist, wenn man seine Mutter so sehr liebt.«
    »Was für eine merkwürdige Idee!«
    »Wieso?«
    »Hast du deine Mutter denn nicht lieb, Oddie?«
    »Wahrscheinlich schon. Aber das ist eine scharfe, dornige Art von Liebe, bei der es sich wohl eher um Mitleid handelt.«
    Ich lehnte mich an die Theke. Schwester Miriam nahm meine rechte Hand in beide Hände, um sie sanft zu drücken. »Ich kann auch gut zuhören, Oddie. Willst du dich eine Weile zu mir setzen und mir etwas erzählen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Meine Mutter liebt weder mich noch irgendjemand anders. Sie glaubt nämlich nicht an Liebe; sie hat Angst davor, wegen der Verpflichtungen, die damit verbunden sind. Sie braucht nur sich selbst, um sich im Spiegel zu bewundern. Das ist schon alles, deshalb ist es eigentlich nicht nötig, sich hinzusetzen und darüber zu sprechen.«
    In Wahrheit war meine Mutter ein regelrechtes Gruselkabinett mit so vielen psychologischen Absonderlichkeiten, dass Schwester Miriam und ich uns tagelang über sie hätten unterhalten können.
    Da der Vormittag jedoch bald vorüber war, da sieben Bodachs
im Aufenthaltsraum lungerten, da lebende Knochengerüste durch den Schneesturm schlichen, und da der Tod mich einlud, mit ihm Schlitten zu fahren, hatte ich keine Zeit, mich als Opfer zu gebärden und die beklagenswerte Geschichte meiner schlimmen Kindheit auszubreiten. Lust dazu hatte ich übrigens auch nicht.
    »Na gut«, sagte Schwester Miriam. »Ich laufe ja nicht weg. Stell dir einfach vor, du bist bei mir so gut aufgehoben wie bei Oprah Winfrey. Jedes Mal, wenn du dein Herz ausschütten willst, bin ich für dich da. Und da wir hier

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