Schattennacht
redete Jacob inzwischen nicht mehr. Als ich mich zu ihm gesetzt hatte, war er still gewesen, nun war er mucksmäuschenstill.
Nichts existierte mehr für ihn außer der Zeichnung, an der er arbeitete.
Ich versuchte es mit mehr rhetorischen Tricks als ein einsamer Dampfplauderer, der in einer Singlebar gelandet ist. Manche Leute hören sich ja gerne reden, wogegen ich mich lieber schweigen höre. Deshalb war meine Toleranz für den Klang meiner Stimme bereits nach fünf Minuten erschöpft.
Während Jacob zeichnete, hatte er sich aus der Gegenwart in einen anderen Tag zurückversetzt, einen Tag vor dem Meer, der Glocke und dem Wegtreiben, was immer das bedeuten mochte.
Statt weiter Zeit zu vergeuden, indem ich auf ihm herumhackte, bis mein Schnabel abgewetzt war, stand ich auf. »Ich komme heute Nachmittag wieder«, teilte ich ihm mit.
Falls er sich darauf freute, dass ich ihm wiederholt Gesellschaft leisten wollte, gelang es ihm großartig, das zu verbergen.
Ich ließ noch einmal den Blick über die gerahmten Porträts an den Wänden schweifen. »Sie war deine Mutter, nicht wahr?«, fragte ich.
Nicht einmal diese Frage entlockte ihm eine Reaktion. Gewissenhaft arbeitete er daran, die ihm vertraute Gestalt per Bleistift ins Leben zurückzurufen.
22
An der Station in der Nordwestecke der ersten Etage tat Schwester Miriam Dienst.
Wenn sie mit zwei Fingern ihre Unterlippe fasste und herunterzog, sodass die rosa Innenseite sichtbar wurde, sah man ein Tattoo in blauer Farbe: Deo gratias , lateinisch für »Dank sei Gott«.
Die eigene Überzeugung auf diese Weise auszudrücken, das wird von keiner Nonne gefordert. Andernfalls gäbe es auf der Welt wahrscheinlich noch weniger Nonnen, als es ohnehin schon gibt.
Lange, bevor sie überhaupt darüber nachdachte, ins Kloster zu gehen, war Schwester Miriam in Los Angeles als Sozialarbeiterin tätig. Sie kümmerte sich um halbwüchsige Mädchen aus sozial schwachen Familien und versuchte, sie vor dem Leben in Straßengangs und vor anderen Scheußlichkeiten zu bewahren.
Bescheid wusste ich über diese Dinge hauptsächlich durch Schwester Angela, die Mutter Oberin, weil Schwester Miriam sich nicht gern wichtigmachte. Sie hatte kein Talent dafür.
Zu einem intelligenten, vierzehnjährigen Mädchen namens Jalissa, das gute Chancen hatte, etwas aus sich zu machen, aber in eine Gang geraten war und sich als Zeichen seiner Mitgliedschaft tätowieren lassen wollte, hatte Miriam gesagt: Hör mal, was muss ich eigentlich noch tun, damit dir klar wird, was du da aus deinem Leben machen willst? Wenn ich vernünftig mit dir rede,
hat das keinen Zweck. Wenn ich wegen dir weine, grinst du. Muss ich für dich bluten, damit du auf mich hörst?
Anschließend hatte sie ihrem Schützling einen Deal angeboten: Wenn Jalissa versprach, sich dreißig Tage lang von Freunden fernzuhalten, die zum Umfeld einer Gang gehörten, und wenn sie sich am nächsten Tag kein Tattoo stechen ließ, dann würde Miriam ihr das vorbehaltlos glauben und sich zum Ausgleich selbst tätowieren lassen – mit etwas, das sie als »Symbol ihrer Gang« bezeichnete.
Wenig später versammelte sich ein Publikum aus zwölf gefährdeten Mädchen, um schaudernd zuzusehen, wie der Tätowierer seine Nadeln ansetzte.
Eine lokale Betäubung hatte Miriam abgelehnt. Das zarte Gewebe der Innenlippe hatte sie gewählt, um die Mädchen mit der Brutalität des Vorgangs zu beeindrucken. Es floss Blut. Tränen strömten ihr aus den Augen, doch sie gab keinen einzigen Schmerzenslaut von sich.
Ihr bis zum Äußersten gehendes Engagement und der Erfindungsreichtum, mit dem sie es einsetzte, blieben nicht ohne Erfolg. Inzwischen hat Jalissa einen Collegeabschluss und arbeitet im Management einer Hotelkette.
Laut Schwester Angela hat Miriam noch viele andere Mädchen vor einem Leben in der Gosse bewahrt. Man sollte meinen, dass ihr Leben eines Tages mit Halle Berry in der Titelrolle verfilmt würde.
Stattdessen hat sich damals eine Mutter über das spirituelle Element beklagt, das zu Miriams Strategie gehörte. Da Miriam im öffentlichen Dienst tätig war, wurde sie von einer Organisation verklagt, die für die Trennung von Kirche und Staat kämpfte. Sie sollte während ihrer Arbeit auf alle spirituellen Andeutungen verzichten und außerdem das Deo gratias entweder mit einem anderen Tattoo überdecken oder entfernen lassen.
Offenbar hatte man Angst, sie werde in unbeobachteten Augenblicken regelmäßig ihre Unterlippe herunterziehen und
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