Schattennacht
davonlaufen zu können – falls seine Lernkurve nicht ausgesprochen steil verlief.
Wieder blickte ich mich um und sah, dass es inzwischen durchscheinend geworden war. Das Licht der Deckenlampen spiegelte sich nicht mehr auf den Konturen, sondern schien in sie einzudringen, als wären sie aus Milchglas.
Während es einen Moment schwankend zum Halten kam, dachte ich schon, es würde sich entmaterialisieren, nicht wie eine Maschine, sondern wie ein Geist. Dann gewann es jedoch
wieder an Substanz, war nicht mehr durchscheinend und setzte sich erneut in Bewegung.
Ein vertrautes Heulen lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Gang zur Abtei. Weit entfernt erklang eine Stimme, wie ich sie bei meinem Weg durch den Schneesturm gehört hatte. Da drückte ein weiteres von diesen Dingern seine aufrichtige Sehnsucht aus, ein Tête-à-Tête mit mir zu haben.
Aus der Entfernung konnte ich nicht feststellen, wie groß es war, aber ich vermutete, dass es wesentlich massiver war als sein Kollege, der sich soeben entpuppt hatte. Im Gegensatz zu diesem bewegte es sich außerdem deutlich geschickter fort, das war gut zu hören. Flink wie ein Tausendfüßler huschte es heran, auf Beinen, die einen makellosen Rhythmus trommelten.
Deshalb tat ich eines der Dinge, dich ich am besten kann: Ich rannte los wie ein Verrückter.
Leider besaß ich nur zwei Beine statt tausend und trug Winterstiefel statt Turnschuhe mit Luftpolstersohlen. Angesichts meiner wilden Verzweiflung hätte ich es dennoch fast geschafft, den sicheren Heizkeller zu erreichen, bevor Satan und Satan junior mich einholten.
Dann griff etwas nach meinen Füßen. Ich schrie auf und stürzte, rappelte mich jedoch sofort wieder auf und schlug auf den Angreifer ein, bis mir klar wurde, dass es sich um die Steppjacke handelte, die ich auf dem Hinweg abgelegt hatte.
Mit dem Getrappel eines Balletts aus tobenden Skeletten, das auf der Bühne die letzten Takte des Finales steppte, steigerte das Klickklack meiner Verfolger sich zu einem Crescendo.
Ich drehte mich um, und da war es, direkt vor mir .
Simultan hielten die Beine, die anders, aber genauso scheußlich waren wie die einer Gottesanbeterin, klappernd inne. So knochig, knotig und stachlig die vordere Hälfte der gut über drei
Meter langen Erscheinung auch war, sie erhob sich mit schlangenhafter Eleganz vom Boden.
Von Angesicht zu Angesicht standen wir uns gegenüber. Jedenfalls hätten wir das getan, wäre ich nicht der Einzige gewesen, der ein Gesicht besaß.
Auf dem ganzen Leib der Kreatur blühten Muster kunstvoll integrierter Knochen auf und verwelkten, um von neuen Formen und Mustern ersetzt zu werden. Das Ganze vollzog sich nun völlig geräuschlos, ohne ein einziges Klicken.
Offenbar hatte diese lautlose Demonstration den Zweck, mir vorzuführen, wie vollkommen das Ding seinen Körper beherrschte, damit mir beschämt bewusst wurde, wie schwach ich vergleichsweise war. Wie in dem Moment, in dem ich es – oder sein Ebenbild – durchs Fenster beobachtet hatte, nahm ich eine maßlose Eitelkeit wahr, eine Arroganz, die auf gespenstische Weise menschlich war. So großspurig und überheblich war dieses Auftreten, dass man es fast prahlerisch nennen konnte.
»Ach, leck mich doch am Arsch, du hässlicher Bastard«, stieß ich unwillkürlich aus, während ich erst einen Schritt zurückwich und dann noch einen.
Mit tobender Wut stürzte es sich auf mich, eiskalt und gnadenlos. Unzählige Kinnbacken und Schnäbel kauten, kantige Knochen fetzten, spitze Stacheln spießten, ein peitschenähnliches Rückgrat mit messerscharfen Haken schlitzte mich vom Bauch bis zur Kehle auf, mein Herz wurde entdeckt und entzweigerissen, und als es vorbei war, konnte ich für die Kinder im Internat nur noch das tun, was ich als ein auf Erden verweilender Toter zustande brachte.
Ja, so übel hätte es laufen können, aber ich muss gestehen, dass ich euch gerade angelogen habe. Die Wahrheit war seltsamer als diese Lüge, glücklicherweise aber auch wesentlich weniger traumatisch.
Alles an meinem Bericht ist wahr bis zu dem Punkt, an dem ich dem Knochengebilde mit etwas drastischeren Worten sagte, es solle mir den Buckel hinunterrutschen. Nachdem ich den von Herzen kommenden Fluch ausgestoßen hatte, wich ich tatsächlich erst einen Schritt zurück und dann noch einen.
Weil ich glaubte, nichts zu verlieren zu haben und praktisch schon tot zu sein, wandte ich mich daraufhin einfach dreist von der Erscheinung ab. Ich ließ mich auf Hände und
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