Schattennacht
»Titanic« gewesen, so hätte ich, an die Reling gelehnt, auf dem schiefen Deck gestanden, eine Sternschnuppe betrachtet und mir zu Weihnachten ein Hündchen gewünscht, während die Band »Näher, mein Gott, zu dir« spielte.
Obwohl mir so vieles, was mir lieb und teuer war, in diesem Leben genommen wurde, habe ich gute Gründe, Optimist zu bleiben. Schließlich hätte ich in den zahlreichen heiklen Situationen, in die ich schon geraten bin, eigentlich nacheinander ein Bein, drei Finger, eine Pobacke, die meisten Zähne, ein Ohr, meine Milz und meinen Sinn für Humor verlieren sollen, aber ich bin immer noch putzmunter. Einigermaßen jedenfalls.
Von Boo und meinem Magnetismus weitergezogen, drang ich vorsichtig tiefer in den hohen Raum ein und entdeckte, was mich eigentlich angelockt hatte.
Zwischen zwei weiteren Reihen grauer Metallkästen hing an einem freien Stück Wand Bruder Timothy.
31
Bruder Timothys beschuhte Füße baumelten einen halben Meter über dem Boden. Ein gutes Stück weit über ihm war ein hundertachtzig Grad umspannender Bogen aus dreizehn merkwürdigen weißen Pflöcken in den Beton getrieben worden. An diesen Pflöcken waren weiße, daumenbreite Bänder befestigt, an denen der Bruder hing.
Eines der dreizehn Bänder endete in seinem zerzausten Haar. Zwei weitere führten zum Rand der Kapuze, die hinter dem Nacken lag, und die restlichen zehn verschwanden in kleinen Schnitten, die man in den Schultern, Ärmeln und Seiten der Kutte angebracht hatte.
Die Art und Weise, wie die Bänder befestigt waren, blieb an allen Stellen verborgen.
Angesichts des nach vorne hängenden Kopfs und der ausgebreiteten, leicht nach oben gewinkelten Arme war überdeutlich, dass hier ein höhnisches Abbild der Kreuzigung hatte geschaffen werden sollen.
Obwohl keine einzige Wunde sichtbar war, schien Bruder Timothy tot zu sein. Sein Gesicht, das so heftig hatte erröten können, war nun extrem bleich; unterhalb der Augen war die Haut grau geworden. Statt eine Gefühlsregung auszudrücken, gaben die schlaffen Gesichtsmuskeln sich dem Zug der Schwerkraft hin.
Da alle Lämpchen an den Verteilerkästen links und rechts
grün leuchteten, regte sich in mir ein völlig absurder Optimismus. »Bruder Timothy«, flüsterte ich und war bestürzt, wie dünn meine Stimme klang.
Das Brausen und Dröhnen der Maschinerie übertönte das Atmen des dreiköpfigen Ungeheuers hinter mir, doch ich wehrte mich dagegen, mich umzudrehen, um ihm entgegenzutreten. Irrationale Angst. Hinter meinem Rücken lauerte überhaupt nichts, weder ein indianischer Halbgott mit Kojoten- und Menschenköpfen noch meine Mutter mit ihrer Pistole.
Mit lauterer Stimme wiederholte ich: »Bruder Tim?«
Seine Haut war glatt, sah jedoch so saftlos aus wie Staub und so faserig wie Papier, als wäre ihm das Leben nicht nur genommen, sondern bis zum letzten Tropfen ausgesogen worden.
Eine offene Wendeltreppe führte zu den Stegen am Kühlturm und zu einer Tür oben in der Wand. Durch diese Tür mussten die Polizisten gekommen sein, falls sie den Raum durchsucht hatten.
Entweder hatten sie diesen Ort übersehen, oder der tote Mönch hatte bei der Durchsuchung noch nicht hier gehangen.
Er war ein guter Mensch gewesen und hatte mich immer freundlich behandelt. Deshalb durfte er nicht so hängen bleiben, dass seine Leiche den Gott, dem er sein Leben gewidmet hatte, verhöhnte.
Vielleicht konnte ich ihn abschneiden.
Ich reckte mich nach oben, fasste eines der fasrigen weißen Bänder und fuhr mit Daumen und Zeigefinger daran entlang. Es war nicht aus Baumwolle oder irgendeinem ähnlichen Stoff. So etwas hatte ich noch nie angefasst.
Glatt wie Glas war es und trocken wie Puder, und doch flexibel. Außerdem war es für ein derart feines Band bemerkenswert kalt, ja so eisig, dass meine Finger schon von der kurzen Berührung taub zu werden drohten.
Die dreizehn weißen Pflöcke waren Keile, die irgendwie in den Beton getrieben worden waren wie die Haken, die Bergsteiger mit einem Hammer in Felsritzen schlagen. Im Beton war jedoch nicht der kleinste Riss zu sehen.
Der tiefste Keil ragte etwa fünfzig Zentimeter über meinem Kopf aus der Wand. Er sah aus wie ein gebleichter Knochen.
Ich konnte nicht erkennen, wie seine Spitze verankert war. Er schien aus dem Beton zu wachsen oder mit diesem verschmolzen zu sein.
Auch wie das fasrige Band am Keil befestigt war, konnte ich nicht feststellen. Es sah so aus, als würde jedes Band mit seiner Verankerung eine
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