Schattennetz
nachsehen.«
»Und wie oft tun Sie das?«
»Einmal die Woche, kann man sagen. Meist montags zum Gebetsläuten.« Korfus machte eine Pause. »Nur gestern nicht«, fügte er rasch an. »War ja Kinderfest und ›Stäffelespredigt‹.«
Die Männer schwiegen.
Es war kurz vor Mitternacht, als Konrad Faller mit seinem BMW die Türkheimer Steige aufwärts fuhr. Rechts schimmerten die Lichter der Stadt Geislingen durch das Blätterdach des bewaldeten Hangs herauf. Ein leichter Wind blies, und die Außentemperatur betrug nur 13,5 Grad. Viel zu wenig für einen Sommerabend Ende Juli, dachte Faller für einen kurzen Moment. Doch dann hämmerten wieder jene Gedanken durch seinen Kopf, die ihn seit Stunden nicht mehr losließen. Bohrende Zweifel hatten sich seiner bemächtigt. Zweifel, ob das, wozu er sich letztlich entschieden hatte, richtig war. Hätte er sich nicht doch lieber diesem Kommissar anvertrauen sollen? Alles war so schnell gegangen. Und nun schien es ihm, als sei er in eine Sache hineingeraten, aus der es kein Entrinnen mehr gab.
Faller spürte, wie er schwitzte. Er drehte die Klimaanlage ein paar Grad niedriger und geriet durch diese kurze Unachtsamkeit mit seinem Wagen ein Stück zu weit nach links, sodass ein Entgegenkommender die Lichthupe betätigte. Faller zog den BMW wieder nach rechts und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, über der sich der Himmel von den vorbeihuschenden, schwarzen Baumwipfeln abhob. Gleich würde er die Abzweigung erreichen. Noch könnte er einfach geradeaus weiterfahren. Er schaute in den Rückspiegel. Keine Scheinwerfer hinter ihm. Fahr weiter, fahr weiter – quälte ihn eine innere Stimme. Sein Verstand jedoch machte ihm klar, dass damit alles nur schlimmer werden würde. Bieg ab, setz den Blinker nach links – schien die Vernunft zu sagen.
Die Hinweisschilder, die zur Heidelandschaft ›Schildwacht‹ und zum ›Ostlandkreuz‹ wiesen, reflektierten bereits im Scheinwerferlicht. Faller holte tief Luft, sah noch einmal in den Rückspiegel und setzte den Blinker nach links. Gleichzeitig drückte er den Knopf der Zentralverriegelung, womit sich alle Außentüren mit einem dumpfen Klicken automatisch schlossen.
Der BMW rollte nach links in einen asphaltierten Weg, der bereits nach wenigen Metern in die freie Landschaft führte und sich verzweigte. Es waren nun einzelne Sterne zu sehen. Links am Horizont funkelten die Lichter einer Ortschaft herüber, die jenseits des Geislinger Talkessels lag. Faller verlangsamte auf Schrittgeschwindigkeit, um das weite Gelände vor sich überblicken zu können. Doch das Getreide stand bereits hoch, und auch der Mais war offenbar gut herangewachsen. Nirgendwo erspähte Faller ein auffälliges Licht. Er gab wieder Gas und bog an der Wegegabelung nach rechts ab – hinüber zu der Hochfläche, die in verschiedenen Schwarzschattierungen vor ihm lag. Hier kannte er sich aus, hier oben, wo die landwirtschaftlichen Flächen in die Heidelandschaft der ›Schildwacht‹ übergingen, auf der ein mächtiges, bei Nacht beleuchtetes Kreuz in den Himmel ragte, das an die vertriebenen Südmährer erinnerte, deren Patenstadt Geislingen war. Da hatte Faller in seiner Kinderzeit ›Räuber und Gendarm‹ gespielt und später, als Jugendlicher, bei Mondschein die ersten romantischen Erfahrungen gesammelt.
Wie konnte er jetzt an so was denken? Jetzt, ausgerechnet jetzt, während sein BMW auf dem asphaltierten Weg durch die Getreidefelder rollte. In ein paar 100 Metern würde er das ›Geiselsteinhaus‹ erreichen – das Vereinsheim der Turngemeinde Geislingen. Dort, das wusste er, war er mutterseelenallein. Werktags war geschlossen – und bei dieser kühlen Witterung dürfte an der Feuerstelle kaum jemand grillen. Vermutlich würde auch in keiner dieser verwachsenen Parkplatznischen das Auto eines Liebespaars stehen.
Den ganzen Abend über hatte Faller mit der lauter werdenden Stimme gekämpft, die ihn davor warnte, sich in einen Hinterhalt locken zu lassen. Dort draußen am Geiselsteinhaus hörte der Fahrweg auf. Und keine 100 Meter davon entfernt fiel der Steilhang nahezu senkrecht ins Rohrachtal hinab – dorthin, wo sich die Eisenbahnsteige und die Bundesstraße 10 zur Albhochfläche hinaufschlängelten. Der Geiselstein, der dem Vereinsheim den Namen gab, war ein grandioser Aussichtspunkt. Ein Weiterkommen aber gabs hier für Fahrzeuge nicht.
Faller nahm beim Gedanken daran instinktiv den Fuß vom Gaspedal, als wolle er die Ankunft am
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