Schattenprinz 01 - Der Prinz der Schatten
einfach, weil er etwas brauchte, woran er sich festhalten konnte. Es war ein Werk über die Geschichte des Seebundes. Er hatte es einmal an Gajan verliehen, als dieser noch jung gewesen war. Er starrte mit leerem Blick auf die Seiten, über die einst auch Gajans Augen gewandert waren. Nein, es konnte nicht sein. Er rief sich die Worte des Windes in Erinnerung. Hatte er wirklich gesagt, dass der Prinz tot war? Oder waren die Menschen in dem Boot dem Tode geweiht? Ein Riff. Er dachte nach. Im nördlichen Teil des Goldenen Meeres wartete die Schärensee, voller tückischer Riffe. Gab es dort nicht auch Inseln? Winzige Eilande nur, aber doch groß genug, um einige Tage zu überleben? Konnte das eine Hoffnung sein? Der Wind hatte doch auch etwas von Trümmern gesagt.
Quent schaute aus dem Fenster. Nein, er hatte den Wind nach Prinz Gajan gefragt, und er hatte mit » Tod« geantwortet. Etwas anderes zu hoffen war aberwitzig. Dennoch, er musste einen Boten nach Felisan schicken, damit man ein Schiff aussandte, um nach Überlebenden zu suchen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Er seufzte. Es gab andere Riffe, das Goldene Meer war unter seiner meist ruhig anmutenden Oberfläche voller Tücken. Sie konnten an hundert anderen Stellen untergegangen sein. Er würde den Wind noch einmal fragen müssen, später, wenn er wieder zu Kräften gekommen war. Es klopfte an seine Tür.
Quent blieb sitzen, er wollte von niemandem gestört werden, nicht jetzt, nicht, solange er annehmen musste, dass sein Lieblingsschüler Gajan tot war.
Es klopfte erneut, energisch und hell. Und dann rief eine bekannte Stimme: » Meister Quent? Bitte, es ist dringend.«
Die Baronin? Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Seufzend erhob er sich und legte das Buch vorsichtig wie einen kostbaren Schatz zur Seite. Dann ging er zur Tür. Er sammelte sich, denn er wollte sich keine Blöße geben, nicht vor dieser Frau, die einem Nest von Skorpionen entstammte.
» Werte Baronin, welch unerwartete Ehre«, murmelte er, als er die Tür öffnete.
» Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen«, erwiderte sie, um ihn dann besorgt anzusehen und zu fragen: » Ist etwas nicht in Ordnung? Ihr seht so blass aus, Meister Quent.«
Der Zauberer bat sie mit einer Geste einzutreten, weil er sich auch die Blöße der Unhöflichkeit nicht geben wollte, und knurrte: » Ich war inmitten meiner Arbeit, verzeiht die Unordnung.«
Sie ließ den Blick durch die schmucklose Kammer schweifen und blieb am Rande des Sturmkreises stehen, als fürchte sie sich, die weiße Kreidelinie zu überqueren.
» Keine Angst, es ist kein Bannkreis, Baronin«, sagte der Zauberer.
» Ihr habt den Wind beschworen, nicht wahr? Bei Gelegenheit würde ich gerne sehen, wie Ihr das macht, Meister Quent. Mein Gemahl hat mir viel von Euren erstaunlichen Fähigkeiten erzählt.«
Quent nickte grimmig. Beleran redete zu viel. Und zwei seiner Brüder waren vermutlich tot. Er schloss für einen Moment die Augen.
» Ihr seht erschöpft aus, Meister Quent. Was ist mit Euch?«
Sollte ihre Sorge etwa echt sein? Was wusste er schon von dieser Frau, außer, dass sie weit klüger und ehrgeiziger als ihr Mann war?
» Der Wind brachte schlechte Nachrichten, Baronin, wiewohl das Flüstern des Windes immer schwer zu deuten ist und ich vielleicht etwas falsch verstanden habe, aber lassen wir das.«
» Nein, Meister Quent, ich sehe, wie sehr Euch die Nachricht bedrückt. Bitte, was ist es? Oh, ich kann es mir denken, Ihr habt den Wind nach meinen Schwägern gefragt, ist es nicht so?«
Er nickte schwach. Sie war wirklich klug, und dieser sorgenvolle Blick, die plötzliche Blässe – sie schien ehrlich betroffen zu sein. Quent seufzte: » Es ist nichts Sicheres, Baronin. Doch muss ich befürchten, dass das Schiff der Prinzen gesunken ist.«
» Gesunken?« Sie starrte Quent mit offenem Mund an. » Wie furchtbar! Um der Himmel willen! Aber – es gab doch sicher Überlebende? Ein Beiboot, in das sie sich flüchten konnten, ein anderes Schiff, das sie aufnahm. Das Goldene Meer ist doch viel befahren. Gajan und Olan – habt Ihr von Ihnen gehört? So sagt doch etwas, Quent!«
Er schüttelte den Kopf. » Ich weiß es nicht. Es gibt ein Boot mit Überlebenden, doch wollte der Wind mir nicht sagen, ob die Prinzen unter ihnen sind. Eigentlich sagte er sogar, dass sie tot … aber nein, es ist nicht sicher.«
Shahila von Taddora wandte sich ab. Unterdrückte sie gar ein Schluchzen? Quent hätte nicht gedacht, dass sie ihre
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