Schattenreiter
das schien er nun zu verstehen. Er hauchte einen zärtlichen Kuss auf meine Stirn, der ein herrliches Prickeln auf meiner Haut zurückließ. Dann wandte ich mich um, lehnte mich an ihn und wurde zugleich von ihm gehalten, während ich auf das ruhige Wasser blickte. Wie friedlich es hier war. Ich konnte mir vorstellen, für immer hierzubleiben. In South Dakota, in Calmwood, bei Rin.
In diesem Moment hätte nichts die Stille stören können, die sich über den kleinen See gelegt hatte. Nichts, außer dem Ruf eines Horns, das in der Ferne ertönte.
Die Nachtvögel schreckten aus den Baumwipfeln, als wäre der Klang ein schreckliches Omen. Kreischendschossen sie wie eine dunkle Armada in die Höhe, kreisten weit über unseren Köpfen. Zwei Rehe huschten durch das Unterholz, auf der Flucht vor dem Schall.
Auch Rin horchte auf. Etwas schien ihn zu beunruhigen. Der Rhythmus seines Atems veränderte sich. Er wurde schneller. Das Horn erklang erneut. Rasch richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Ich machte einen Schritt zurück und war von neuem überwältigt von dieser prachtvollen hünenhaften Gestalt.
»Was ist los?«
»Wir müssen fort.« Er reichte mir die Hand.
»Aber … warum denn so plötzlich?«
»Beeil dich.«
Seine Nervosität ging auf mich über. Ich griff nach seiner Hand und schwang mich auf seinen Rücken. Und schon stürmte er los, preschte wie ein Wahnsinniger durch das Dickicht. Er war viel schneller als vorhin. Pferde waren Fluchttiere. Das bekam ich nun am eigenen Leib zu spüren. Ich hatte Schwierigkeiten, mich an ihm festzuhalten und dabei nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Geschmeidig duckte er sich unter Zweigen und niedrigen Ästen hindurch, die mir fast ins Gesicht schlugen, hätte ich nicht ebenso schnell reagiert.
»Rin, was ist denn passiert?«
Nicht nur Rin, der ganze Wald war in Aufruhr. Da ertönte es wieder. Das Signal des Horns. Bedrohlich hallte es durch die Nacht, schreckte die Tiere auf.
»Das ist Kronn.«
»Wer?«
»Ein Arou-newe. Er hasst die Menschen. Lange Zeit war er fort, hat die Wälder South Dakotas hinter sich gelassen, um seine Sinne und Fähigkeiten außerhalb zutrainieren. Wie es scheint, kehrt er zur Me’solbrem zurück. Wenn er dich in meiner Nähe sieht, kann ich für nichts garantieren. Sein Hass auf die Menschen ist tödlich.«
Sollte das heißen, dieser Kerl würde mich umbringen? Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig vor einem niedrigen Ast und klammerte mich wie besessen an Rins Brust. Der setzte zum Sprung über eine riesige Baumwurzel an, die uns den Weg versperrte. Ich spürte, wie sein Körper sich in die Luft erhob, als wollte er davonfliegen. Für kurze Zeit schienen wir tatsächlich zu schweben. Dann setzte er wieder hart auf dem Boden auf, und ich wurde kräftig durchgeschüttelt.
Ich war froh, als wir endlich den Waldrand erreichten. Hier fühlte ich mich in Sicherheit. Es war ein kleines Wunder, dass ich nicht von seinem Rücken gefallen war und mir sämtliche Knochen gebrochen hatte. Vor Erleichterung musste ich lachen. Aber dann fiel mir etwas Schreckliches ein.
»Jack und Ira sind in den Black Hills, sie zelten dort. Was, wenn Kronn sie findet?«
Rin drosselte seine Geschwindigkeit. Er war außer Atem. Sein Körper zitterte, seine Haut fühlte sich feucht an. Nervös trappelten seine Vorderhufe.
»Kronn wagt sich nicht in die Nähe von euren Orten. Auch der Stadt wird er fernbleiben. Dafür fürchtet er eure Technologien viel zu sehr. Doch wenn er uns zusammen sähe, würde er das als Verrat an den alten Regeln der Ti’tibrin ansehen. Und diese besagen, dass sich die Ti’tibrin und die Menschen niemals einander zuwenden dürfen.«
Mir stockte der Atem. Diese Regel hatten wir ja wohlgründlich gebrochen. Wieso hatte Rin sie niemals erwähnt? Wahrscheinlich wäre es uns ohnehin nicht gelungen, uns daran zu halten.
»Viele von uns finden die alten Gesetze überholt. Sie wurden in einer Zeit geschaffen, in der wir im Krieg mit den Siedlern standen. Wir wollten unser Volk durch feste Regeln vor Verrat durch die Menschen schützen. Einige nehmen sie auch heute noch sehr genau. Und Kronn ist einer von ihnen. Hätte ich gewusst, dass er durch die Black Hills streift, dann hätte ich dich niemals dieser Gefahr ausgesetzt. Es tut mir so leid, Jorani.« Er rieb sich mit beiden Händen die Schläfen.
»Du konntest es nicht wissen«, beruhigte ich ihn, stieg ab und setzte mich auf einen Stein. »Aber diese Regeln sind der Grund,
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