Schattenriss
plötzlich. Seltsam eigentlich, nicht wahr? Sieben und schon in einem Sonatenkonzert, das ist es wohl, was man gemeinhin gute Erziehung nennt. Und immerhin sind wir ja 1955 auch schon wieder wer gewesen, denkt sie, so was muss sich ja irgendwie bemerkbar machen.
»... Bennet?«
Was? Ach ja, so hat sie mal geheißen, bevor hier alle damit begonnen haben, sie nur beim Vornamen zu rufen. Ylva Bennet. Merkwürdig, aber mit Namen hat sie’s irgendwie ...
»Frau Bennet?«
»Ja?« Sie sieht sich um und wundert sich, dass sie auf einmal in einem dunklen Büro sitzt anstatt an ihrer Nähmaschine.
»... Ihren Fall gründlich geprüft und sind zu der Erkenntnis gelangt, dass Sie ...«
Was? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?
»... wenden Sie sich jederzeit gern an Frau Michalke. Sie wird Ihnen selbstverständlich auch dabei behilflich sein, alle notwendigen Schritte in die Wege zu leiten und die entsprechenden Anträge zu stellen. Und wenn Sie sich doch noch dazu entschließen sollten, Rechtsmittel einzulegen, können wir Ihnen auch gern ...«
Halt, stopp! Wovon, um alles in der Welt, reden Sie da? Was ist das für ein Zimmer? Wo sind meine Reißverschlüsse?
Ein freundliches fremdes Lächeln vor dunklem Hintergrund. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
Sie schüttelt den Kopf, weil ihr im Augenblick alles abhandengekommen zu sein scheint. Der Sohn, die Reißverschlüsse, sogar die Fragen. Und das, obwohl sie um die Gefährlichkeit eines solchen Zustandes weiß. Sie weiß, dass man verrückt werden kann, allein aufgrund von nicht gestellten Fragen. Auch wenn dieser Mann auf der anderen Seite des düsteren Schreibtischs gerade behauptet hat, »man«, also irgendwer, habe festgestellt, dass sie gar nicht verrückt sei. Aber vielleicht hat sie ihn in diesem Punkt auch irgendwie missverstanden.
Du musst dich vorsehen .
Es könnte eine Falle sein. Sie haben ihre Leute überall.
Und so nimmt sie lächelnd entgegen, was er ihr hinstreckt. Eine Visitenkarte mit dem Namen einer Frau, die angeblich ab sofort für sie zuständig ist. Für die ersten Schritte in Freiheit, wie er mit einem eigenartig entschuldigenden Lächeln hinzufügt, als sei da was anrüchig allein an dem Wort. Also Visitenkarte. Dazu Geld. Ein Umschlag mit Scheinen, die komisch aussehen. Möglicherweise Spielgeld. Ja, denkt sie, wahrscheinlich. Spielgeld oder ein Trick ...
»Und jetzt?«
»Jetzt können Sie gehen.«
Sie schüttelt den Kopf. »Gehen? Wohin?«
Lachen. Seins. Ungläubig. »Wohin Sie wollen.«
Jetzt lacht sie auch. Das ist schon viel, denkt sie, gehen können, wohin man will. Wenn sie sich nur daran erinnern könnte, wo das ist ...
»Soll ich Ihnen vielleicht ein Taxi rufen?« Der Mann zeigt auf den Koffer, der neben ihrem Stuhl steht, ohne dass sie sich erklären könnte, wie er dort hingekommen ist.
Sie nickt, weil es ihr irgendwie folgerichtig erscheint.
Der Mann greift zum Telefon. Sagt etwas. Dann zu ihr: »Der Wagen ist unterwegs. Ich habe dem Fahrer gesagt, dass Sie vor dem Tor auf ihn warten.«
Eine warme, feste Hand, die nach ihrer greift.
»Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute.«
VIERTER TEIL
Wiesbaden, 15. März 2008
1
Gütiger Gott, dachte Winnie Heller, was gäbe ich jetzt für eine schöne, heiße Dusche! Und hinterher einen von diesen richtig sahnigen Milchkaffees, dazu mild zerlaufende Butter auf frischen Croissants und pfundweise Erdbeermarmelade ...
Sie leckte sich genüsslich über die Lippen, doch die Realität sah definitiv anders aus. Sie war mit pochenden Kopfschmerzen erwacht, hatte ein paar Kniebeugen gemacht, um ihre steifen Gelenke wieder zum Leben zu erwecken, und anschließend hatten sie gefrühstückt: Cracker, Wasser und Toast.
Dass es Tag war, irgendwo dort draußen, ließ sich nicht einmal vage erahnen. Zeit war etwas, das sich anderswo abspielte. Auf dem Grund der Grube gab es nur Nuancen. »Dunkel« und »nicht ganz so dunkel«. Winnie Heller reckte sich, um ihren Körper in einen Zustand von Handlungsbereitschaft zu versetzen. Doch der Erfolg war eher mäßig. Allmählich machte sich das Fehlen von Tageszeiten bemerkbar. Das Fehlen einer klaren Struktur, an der sich ihr Biorhythmus orientieren konnte. Stattdessen geriet sie mehr und mehr in einen merkwürdig irreal anmutenden Schwebezustand, der sich mit jeder Stunde, die verging, noch verschlimmerte. Es gab keine Geräusche. Keine Bewegung. Keinen Hinweis auf Leben oberhalb der Grube. Nur diese paar gekachelten
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