Schattenriss
sie. »Aber dort hat es mir, ehrlich gesagt, nicht sonderlich gefallen. Ewig die gleichen Fragen. Gibt’s diese Hose auch in Größe fünfzig? Hat das Shirt auf Seite drei tatsächlich einen Rundhalsausschnitt? Wie lange habe ich Zeit, diesen Fernseher zurückzugeben, wenn er meiner Frau nicht gefällt? Und so weiter und so fort ...« Sie ließ ein glockenhelles Lachen hören. »Nach einem halben Jahr hatte ich das Gefühl, ich explodiere, sobald irgendwo in meiner Nähe ein Telefon klingelte. Und da habe ich mich dann entschlossen, eine Banklehre hinterherzuschieben. Obwohl meine Eltern von dieser Idee natürlich alles andere als begeistert waren.«
Tja, Schätzchen, und jetzt sitzt du hier, dachte Winnie Heller sarkastisch. That’s life! Laut sagte sie: »Und die Arbeit in der Sparkasse gefällt Ihnen tatsächlich besser?«
»Oh, ja, viel besser«, nickte die Blondine, indem sie sich zu den beiden anderen Frauen auf die Matratze setzte. Etwas, das Evelyn ganz offenbar völlig gegen den Strich ging. »Man erlebt so eine Beratungssituation grundlegend anders, wenn man persönlich mit den Kunden in Kontakt steht, wissen Sie. Das lässt sich überhaupt nicht vergleichen.«
Evelyn tauschte einen Blick mit Winnie Heller, und abermals bemerkte Winnie in den Augen der Krankenschwester jenes spöttische Funkeln, das von einem messerscharfen Verstand zeugte. Evelyn Gorlow war intelligent, kein Zweifel. Auch wenn ihre äußerliche Lethargie beständig dazu verführte, sie zu unterschätzen.
Irgendwie erinnert sie mich an Annie Wilkes, dachte Winnie Heller schaudernd, diese Irre in Steven Kings Misery . War die nicht auch Krankenschwester gewesen?
Doch sie kam nicht dazu, näher über diese Frage nachzudenken, denn neben ihr schwatzte Jenna bereits unbekümmert weiter: »Aber in einer Hinsicht habe ich an das Call-Center trotzdem gute Erinnerungen.« Ein leises Lächeln goss sich über das nichtssagend hübsche Gesicht der Blondine und ließ sie unvermittelt ein paar Jahre jünger erscheinen, als sie eigentlich war.
»In welcher Hinsicht?«, fragte Winnie Heller, auch wenn sie sich längst denken konnte, worauf dieses Gespräch hinauslief.
»Manuel und ich haben uns dort kennengelernt.«
»Ist das Ihr Freund?«
Die blonde Bankangestellte nickte. »Wir sind jetzt schon fünfeinhalb Jahre zusammen und noch genauso glücklich wie am ersten Tag.«
Ach du Schande , höhnte Evelyns Blick. Mir kommt gleich das Kotzen!
Ein Freund? Winnie Heller zog die Augenbrauen hoch. »Ist er auch bei der Bank beschäftigt?«
»Manuel?« Jennas Lächeln verschwand so plötzlich, als habe jemand einen Schalter umgelegt. »Nein, er ... Genau genommen ist er im Augenblick ...«
»Arbeitslos«, ergänzte Evelyn, wobei sie es schaffte, gänzlich unbeteiligt auszusehen, auch wenn Winnie Heller der Überzeugung war, dass die dicke Krankenschwester sich innerlich vor Lachen bog.
»Er macht eine Fortbildung«, versetzte Jenna, deren Wangen jetzt leicht gerötet waren.
»Ja, sicher doch.« Evelyns Hand wedelte abfällig durch die kühle Grubenluft.
»Was ist dagegen einzuwenden, wenn jemand darum bemüht ist, seine Qualifikation zu verbessern?«, fauchte die Blondine.
»Ach, Herzchen«, seufzte Evelyn. »Was glauben Sie, wie viele Fortbildungen und Umschulungen und was weiß ich noch alles die in mich investiert haben. Vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass das alles überhaupt nichts bringt.«
»Umschulungen?« Winnie Heller runzelte betont auffällig die Stirn. »Ich denke, Sie sind Krankenschwester.«
»Ich arbeite nicht mehr in diesem Beruf.« Evelyns Wurstfinger schraubten den Verschluss ihrer Wasserflasche ab. Dann schloss sie die Augen und nahm einen tiefen Zug. Als sie die Augen wieder öffnete und die erwartungsvollen Blicke ihrer Gesprächspartnerinnen bemerkte, huschte ein Anflug von Ärger über ihre aufgequollenen Züge.
Und wenn schon, dachte Winnie Heller. Da sie ja sowieso schon wütend ist, kann ich auch getrost noch einen draufsetzen! »Warum denn nicht?«, fragte sie arglos. »Ich denke, in der Pflege werden immer kompetente Leute gesucht.«
»Ich habe aus gesundheitlichen Gründen aufgehört«, entgegnete Evelyn.
In Jennas Augen blitzte Neugier auf.
Evelyn bemerkte es und grinste auf eine Weise, die ein unbeteiligter Beobachter vielleicht mit dem Wort hinterhältig beschrieben haben würde. Dann riss sie sich mit einer pfeilschnellen Bewegung die Bluse auf. Die Geste war derart heftig, dass zwei Knöpfe
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