Schattenriss
absprangen. Doch das schien die Krankenschwester nicht weiter zu kümmern. »Hier, Herzchen«, keuchte sie mit fast satanischem Vergnügen. »Sehen Sie das? Mammakarzinom. Zwei Operationen. Dreißig Bestrahlungen. Und eine Prothese, die sich anfühlt, als ob Ihnen einer einen dicken fetten Gummiball auf die Rippen geschnallt hätte.« Sie hielt kurz inne und hieb dann mit der geballten Faust ein paar Mal kräftig auf ihre linke Brust ein.
Die Schläge erzeugten einen rohen, erschreckend dumpfen Ton, der Winnie Heller im wahrsten Sinn des Wortes durch Mark und Bein ging. Und aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass auch Jenna in einer Mischung aus Mitgefühl und blankem Entsetzen nach Luft schnappte.
Annie Wilkes, dachte sie wieder. Diese Frau hat einen echten Schuss!
Evelyn hingegen schien hochzufrieden mit den Reaktionen auf ihre Darbietung und brachte in aller Gemütsruhe ihre Kleider in Ordnung.
»Hey«, rief Quentin Jahn hinter ihnen, und seine Stimme klang irgendwie alarmiert. »Was ist denn mit dem los?«
Winnie Heller wandte den Kopf und sah zu Jussuf Mousa hinüber, der zusammengekrümmt an der seitlichen Grubenwand lag. Zwar konnte sie das Gesicht des kleinen Arabers nicht erkennen, aber dass es sich um einen Notfall handelte, sah sie sofort.
»Was ist geschehen?«, fragte sie, indem sie sich mühsam erhob und zu Jussuf Mousa hinüberrannte. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Mousas Gesicht war von einem dicken Schweißfilm überzogen und er war buchstäblich totenbleich. »Die Tablette«, stieß er hervor. »Es war meine letzte.«
Winnie Heller nahm ihm ein leeres Tablettendöschen aus der Hand. Ein quadratisches Kästchen mit zwei Fächern und einer Hummelfigur auf dem Deckel. »Was ist das, was Sie nehmen müssen?«
»Für Herz«, keuchte der Araber. »Ich muss nehmen Tabletten immer, sonst ich sterbe, sagen Doktor, verstehen Sie?«
Winnie Heller nickte.
»Wie viele Tabletten nehmen Sie pro Tag?«, fragte Evelyn, die unbemerkt zu ihnen getreten war, mit der Sachlichkeit einer Fachfrau.
»Zwei.« Jussuf Mousa rang nach Luft. »Morgens eine. Und am Abend wieder.«
»Und wann haben Sie die letzte genommen?«
»Gestern.«
»Wann gestern?«
»Ich weiß nicht genau. Bevor die Ratten kamen.«
Winnie Heller sah, wie sich die Brauen der ausgebildeten Krankenschwester zusammenzogen.
»Ist es sehr tragisch, wenn er heute keine Tablette mehr nimmt?«, fragte sie, indem sie Evelyn ein Stück zur Seite nahm.
Evelyn nickte.
»Wie schlimm?«
»Schwer zu sagen. Aber wenn ich ihn mir so anschaue, sieht es nicht allzu gut aus.«
»Besteht Lebensgefahr?«
Die korpulente Krankenschwester antwortete mit einem gleichgültigen Achselzucken. »Sorry, aber ich war in der Psychiatrie tätig. Da hatten wir nicht allzu viele Herzattacken.«
Winnie Heller musterte das feiste Gesicht ihrer Gesprächspartnerin mit neuem Interesse. Wie mochte es sich wohl anfühlen, der Obhut dieser Frau ausgeliefert zu sein? Noch dazu, wenn man psychische Probleme hatte ...
»Jemand sollte denen da oben Bescheid sagen«, zwang Horst Abreschs eindringliches Flüstern sie, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Der stellvertretende Filialleiter hatte ihren Wortwechsel mit Evelyn verfolgt und blickte besorgt auf den röchelnden Araber hinunter.
Jemand, dachte sie. Was er eigentlich meint ist: Ich ... »Können Sie sich nicht noch ein bisschen gedulden?«, flehte
derweil Jenna, ohne Jussuf Mousa direkt anzusehen. »Ich meine,
wenigstens bis diese Kerle von sich aus wieder auftauchen.« »Neee, Herzchen, der kann sich nicht gedulden«, höhnte Evelyn. »Der hat schon Glück, wenn er nicht hopsgeht.«
Horst Abresch, der sich inzwischen neben Mousa auf den Boden gekniet hatte und eifrig darum bemüht war, den Kopf des Arabers höher zu lagern, warf der Krankenschwester einen tadelnden Blick zu.
Doch im Gegensatz zu ihm war Jenna auch durch Evelyns Geschmacklosigkeiten nicht zu bremsen. »Aber wenn sie dann wütend werden und um sich schießen«, greinte sie. »Oder wenn sie ...«
Halt den Mund, Jenna!
»Schluss jetzt, seien Sie endlich still, verstanden?!«, fuhr Quentin Jahn die blonde Bankangestellte an, und Winnie Heller hätte den Zeitschriftenhändler küssen mögen für dieses entschlossene Eingreifen.
»Ich fürchte, es hilft alles nichts«, befand sie, indem auch sie ihren Blick nach oben, zum Rand der Grube richtete. Dorthin, wo es seit geraumer Zeit so angenehm ruhig und friedlich zu sein schien. »Wir
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