Schattenriss
sich während des Telefonats mit dem Geiselnehmer gemacht hatte.
»Das Schlimme ist, dass sie überall sein könnten«, seufzte Luttmann.
»Nein«, versetzte Goldstein in ungewohnt scharfem Ton. »Sie sind nicht überall. Und sie sind auch nicht irgendwo. Sie sind an einem Ort, der Sinn macht.«
Meiner Erfahrung nach beruht das Wenigste, was Menschen tun, auf Zufällen und Willkürlichkeiten.
Verhoeven sah, dass dem jungen Familienvater eine Frage auf der Zunge lag. Aber Kai-Uwe Luttmann stellte diese Frage nicht.
Stattdessen stand Jens Büttner auf und verließ wortlos den Raum.
»Okay, dann hätte ich jetzt gern deine Einschätzung gehört«, wandte sich Goldstein, der den plötzlichen Abgang von Werner Brennickes Adlatus nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen schien, an seine Profilerin.
Monika Zierau hatte sich mit ihren Informationsmappen an den Esstisch der Liesons zurückgezogen und telefonierte unablässig. Auch jetzt hatte sie ihr Handy am Ohr und blickte verdutzt herüber, als sei sie nicht sicher, ob der Unterhändler tatsächlich mit ihr gesprochen hatte. »Ich ruf gleich wieder an«, erklärte sie ihrem Gesprächspartner ohne einen Anflug von Eile oder gar Gereiztheit. Dann sah sie Goldstein an. »Welcher Teil meiner Einschätzung interessiert dich?«, fragte sie. »Der, der Teja betrifft? Oder möchtest du wissen, was ich von deiner Rolle bei der ganzen Sache halte?«
»Bewahre«, rief Goldstein, aber sein Lachen klang nicht echt. »Sag mir lieber, mit wem wir es zu tun haben.«
»Wie du meinst«, entgegnete Monika Zierau, indem sie ihm einen kurzen, aber bezeichnenden Blick zuwarf. Wenn Verhoeven nicht gewusst hätte, dass die beiden schon oft zusammengearbeitet hatten, hätte er wahrscheinlich angenommen, dass sie einander gerade erst kennenlernten. Und auch die Frage, ob die Psychologin und der studierte Soziologe sich mochten, konnte er bislang nicht letztgültig beantworten. Monika Zieraus Blick von eben zumindest sprach eindeutig dagegen. »Der Mann, den wir Teja nennen, ist definitiv kein Selbstdarsteller«, kam die Profilerin ohne Umschweife zur Sache. »Er beziehungsweise seine Leute tun etwas verdammt Spektakuläres, aber es ist ihm nicht wichtig, darüber zu sprechen. Er weist nicht explizit auf seine Macht hin, auf das, was er mit den Geiseln tun oder nicht tun könnte. Stattdessen will er auf den Punkt kommen, und zwar so schnell wie nur irgend möglich. Er ist klug, und er ist gebildet, was, wie du weißt, nicht zwingend Hand in Hand gehen muss. Bestimmte Formulierungen, wie zum Beispiel Weil ich es so will, deuten darauf hin, dass unser Mann ein Kontrollfreak ist. Und er übt diese Kontrolle mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in seinem täglichen Leben bewusst und souverän aus. Nichtsdestotrotz gibt es gerade in diesem Fall etwas, das sich dieser seiner Kontrolle entzieht. Und genau hierin liegt die Gefahr.«
Persönliches Motiv betrifft Teja selbst ...
»Die Gefahr dafür, dass er ausrastet?«, fragte Hinnrichs.
Die Psychologin sparte sich jeden Kommentar, sondern nickte nur. Aber sie sah in Goldsteins Richtung.
»Der Kerl hat geblufft«, wiederholte dieser mit einem Blick, der Verhoeven einmal mehr die Arroganz in Erinnerung rief, von der der Unterhändler selbst gesprochen hatte. Und ihm fiel auch noch etwas anderes ein, das Richard Goldstein gesagt hatte: Manchmal ist ein guter Bluff hilfreicher als jede noch so ausgefeilte Strategie.
»Ich bin mir nicht sicher, ob er blufft«, sagte Monika Zierau zögerlich.
»Aber ich«, versetzte Goldstein. »Erklär mir lieber, was unserem Hunnenkönig so wichtig an Walther Lieson ist.«
Die Psychologin antwortete nicht sofort, und Verhoeven nutzte die Gelegenheit, etwas zu äußern, was ihm schon seit längerem im Kopf herumging. »Vielleicht ist ihm Lieson ja gar nicht so wichtig, wie er glaubt.«
Richard Goldstein blickte überrascht auf. »Sondern?«
»Das klingt jetzt vielleicht irgendwie unausgegoren«, sagte Verhoeven, und über den Tisch hinweg sah er, dass Hinnrichs ihn am liebsten gelyncht hätte für diese übervorsichtige Einleitung. Wenn Sie was zu sagen haben, sagen Sie’s einfach , bedeuteten ihm die stahlblauen Augen hinter der randlosen Brille, und Verhoeven musste an die Zeiten denken, in denen der ehrgeizig auf seine Karriere bedachte Burkhard Hinnrichs ihm bei jeder Gelegenheit eröffnet hatte, dass es ihm an Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft fehle. »Aber vielleicht hat dieser Teja in
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