Schattenriss
Vergangenheit?«, wandte er sich stattdessen wieder an den jungen Kriminaltechniker. »Gibt’s da vielleicht irgendwas, das auf einen entsprechenden Hintergrund hindeutet?«
»Du willst wissen, ob er früher mal Agent gewesen ist oder als Spitzel für die Stasi gearbeitet haben könnte?« Luttmann streckte seine langen, schlaksigen Beine von sich. »Tja, nach unserem jetzigen Kenntnisstand würde ich sagen: weder noch.«
»Was heißt das?«
»Lieson ist in Regensburg und München aufgewachsen und hat nachweisbar keinerlei Bezug zur ehemaligen DDR. Und er war auch nie im diplomatischen Dienst tätig.«
»Zumindest nicht offiziell«, knurrte Goldstein. »Alles Weitere wird sich zeigen.«
7
Sie hatten gerufen, verhalten zunächst und schließlich, nachdem sie keine Antwort erhalten hatten, immer lauter und nachdrücklicher.
Aber es war niemand erschienen.
Hinter Winnie Heller stöhnte Jussuf Mousa verhalten vor sich hin. Evelyn hatte dem Schwerkranken mehr oder minder widerwillig einen Großteil ihrer Matratze abgetreten und hockte nun breitbeinig auf einer Ecke derselben wie ein bebluster Buddha. Ihr Blick ging in die entgegengesetzte Richtung, fast so, als wolle sie ihren Mitgefangenen mit allem Nachdruck demonstrieren, dass sie nicht gewillt war, dem Herzkranken über das Abtreten ihrer Schlafgelegenheit hinaus irgendeine Form von Hilfe zukommen zu lassen, Schwesternausbildung hin oder her.
»Wo sind die denn nur?«, fragte Jenna, als auch die letzten Rufe ihrer Mitgefangenen ungehört verhallt waren. »Wenn sie da wären, würden sie sich doch langsam mal sehen lassen, oder?«
Horst Abreschs Finger spielten an seiner Krawatte, die er abgenommen hatte. Ebenso wie die Manschettenknöpfe, die unbeachtet auf einem Mauervorsprung in der Nähe seines Stammplatzes lagen. »Vielleicht sind sie abgehauen.«
»Vielleicht wollen sie uns genau das glauben machen«, konterte Quentin Jahn.
Abresch runzelte seine bleiche Beamtenstirn. »Warum sollten sie so was tun?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Quentin. »Aber merkwürdig ist es allemal.«
»Merkwürdig oder nicht, es muss etwas geschehen«, entschied Winnie Heller.
Der Zeitschriftenhändler kniff die Brauen zusammen. »Sie wollen da hoch?«, fragte er mit einer Mischung aus Tadel und Unglauben. »Schon wieder?«
»Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?«
»Dann gehe ich mit«, verkündete Quentin Jahn anstelle einer Antwort.
»Warum? Es reicht doch, wenn einer von uns das Risiko ...«, setzte Winnie Heller an, doch der asketische Zeitschriftenhändler war bereits an der Treppe.
»Was ist jetzt?«, fragte er mit einem Lächeln, das – zumindest in ihren sensibilisierten Augen – etwas ziemlich Herausforderndes hatte. »Kommen Sie mit oder warten Sie?«
»Ich komme.«
»Fein.«
Auf der Treppe hielt sie sich dicht hinter ihm, und erst jetzt fielen ihr seine Schuhe auf. Sie sahen bequem aus, eine Art Mokassin, und machten selbst auf den rostigen Stufen so gut wie kein Geräusch. Wenn er wollte, könnte er sich unbemerkt davon schleichen, dachte Winnie Heller mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Er könnte gehen, wohin er wollte, und keiner von uns würde es bemerken.
Die Entführer hatten vielleicht einen Komplizen , meldete sich eine altbekannte Stimme in ihrem Kopf zu Wort. Malina, wer immer das sein mag, könnte einer von uns sein ...
»Warten Sie«, rief sie halblaut, als sie merkte, dass er zum Rand der Grube hin das Tempo anzog. »Wir sollten vielleicht zusehen, dass wir ihnen nicht allzu viel Angriffsfläche ...« Sie unterbrach sich, als sie sah, dass Quentin Jahn sich nicht im Mindesten um ihre Mahnungen scherte, und beeilte sich stattdessen lieber, zu ihm aufzuschließen.
Am oberen Ende der Treppe angekommen, verständigten sie sich mit einem kurzen Blick und gingen dann vorsichtig, Seite an Seite, auf die gegenüberliegende Wand zu.
Der weitläufige Raum über der Grube wurde jetzt lediglich durch ein schwaches blaues Flackern erhellt, das aus der rechten der drei Türen fiel. Offenbar lief der Fernseher noch immer. Und zwar nur der Fernseher, ergänzte Winnie Heller im Stillen. Ganz im Gegensatz zu gestern ...
Der lose Mörtel knirschte unter ihren Sohlen, zu ihrer Erleichterung auch unter Quentins, aber im Grunde genommen mussten sie ohnehin nicht allzu leise sein. Wenn die Entführer fort waren, war sowieso alles egal. Und falls nicht ... Tja, dachte Winnie Heller, falls nicht, können wir nur die Wahrheit sagen
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