Schattenriss
Innenseiten der Türen. Auf dem Boden des ersten Spinds entdeckte sie die Sneaker, die sie gestern an Bernd gesehen hatte, und automatisch fielen ihr die Schuhe ihres Begleiters ein. Die Mokassins, die so gut wie kein Geräusch machten. Sie bemerkte, dass die Sneaker nebeneinander standen, exakt in der Mitte des Spindbodens, was darauf hindeutete, dass der Brutalo unter den Geiselnehmern entweder über einen ausgeprägten Ordnungstick verfügte oder ein Mann war, der sich aus irgendeinem Grund daran gewöhnt hatte, selbst noch die alltäglichsten Handlungen mit akribischer Genauigkeit auszuführen. Winnie Heller dachte an die Präzision, mit der er Iris Kuhn genau in der Mitte der Stirn getroffen hatte, und sie überlegte, ob er wohl über eine spezielle Ausbildung, etwa als Scharfschütze, verfügen mochte.
Mit Mühe riss sie ihre Aufmerksamkeit von den Schuhen los und nahm den Rest des Schranks in Augenschein, was schnell erledigt war. Auf der Ablage über der Kleiderstange stand eine Schachtel mit Einweghandschuhen. Daneben etwas, das wie ein Verbandskasten aussah. Im Nachbarspind waren ein paar Kabelrollen und halbverschimmelte Pappkartons untergebracht, die nicht aussahen, als ob sie irgendjemand in letzter Zeit in der Hand gehabt hätte. Die übrigen Spinde waren leer.
Winnie Heller blickte sich nach Quentin um, der nach wie vor mit den Taschen beschäftigt schien und aussah, als ob er etwas Interessantes entdeckt hätte. Sein Rücken wirkte noch straffer als sonst, fast so, als ob ihn irgendetwas regelrecht elektrisiere. Sie überlegte, ob sie zu ihm gehen und ihn fragen sollte, aber sie entschied sich dagegen. Wenn er etwas entdeckt hätte, würde er es mir doch längst gezeigt haben, dachte sie.
Bist du sicher?
Sie biss sich nachdenklich auf die Lippen, während sie die straff gespannten Sehnen im Nacken des Zeitschriftenhändlers anstarrte. Vielleicht wollte er einfach nur gewappnet sein, wenn die Entführer plötzlich zurückkehrten. Vielleicht wirkte er deshalb so sprungbereit. Ja, dachte Winnie Heller. Sprungbereit ist genau das richtige Wort dafür!
Sie sah sich nach der Tür um, hinter der die Düsternis des Grubenraums schwebte und hatte das unbestimmte Gefühl, dass es kälter geworden war.
Noch kälter als zuvor.
8
Goldstein hatte mitten auf dem Wohnzimmertisch der Liesons einen Wecker platziert. Ein klobiges Ding mit einem Haufen Ecken und einer Digitalanzeige, die so eingestellt war, dass die Zeit rückwärts lief. Countdown bis zum Ablauf des Ultimatums.
Verhoeven hatte die Gästetoilette im Erdgeschoss benutzt, die Inger Lieson ihnen am Morgen gezeigt hatte. Er nahm an, dass die Bankiersgattin sich eine Weile hingelegt hatte, aber als er auf dem Rückweg an der offenen Küchentür vorbeikam, sah er sie an der Arbeitstheke stehen und frischen Kaffee machen. Im Aschenbecher neben der Spüle qualmte eine Zigarette vor sich hin, und Verhoeven wunderte sich darüber, weil er Inger Lieson bislang nie hatte rauchen sehen.
Er blieb stehen und überlegte einen Augenblick.
Dann betrat er die Küche, die rein von ihren Ausmaßen her locker mit der eines Vier-Sterne-Restaurants mithalten konnte. Doch zu seiner Verwunderung bemerkte ihn die Bankiersgattin erst, als er bereits dicht hinter ihr war.
»Habe ich Sie erschreckt?«, fragte er, als sie herumwirbelte und dabei den Aschenbecher umstieß. »Tut mir leid.«
»Nein, nein«, antwortete sie, auch wenn der Ausdruck in ihren Augen eine andere Sprache sprach. »Ich war nur ... in Gedanken.«
»Kein Wunder.« Verhoeven lehnte den Rücken gegen einen opulenten Kühlschrank im amerikanischen Stil und schenkte Inger Lieson ein entschuldigendes Lächeln. »Ihre Situation ist alles andere als angenehm, fürchte ich.«
Sie schien ernsthaft zu überlegen, wie er das meinte. Jedenfalls reagierte sie nicht sofort, sondern blickte auf den teuren Marmorboden zu ihren Füßen hinunter, wo die Asche zweier Zigaretten verstreut lag. »Jeder lebt das Leben, das er verdient, nehme ich an«, sagte sie, indem sie sich einen Lappen von der Spüle angelte und die Asche wegwischte.
Verhoeven horchte auf. »Ihre Ehe ist nicht besonders glücklich, oder?«, fragte er geradeheraus, auch wenn diese Frage die letzte war, die er der Bankiersgattin hatte stellen wollen.
»Eigentlich müsste sie es sein«, antwortete Inger Lieson, ohne sich daran zu stören, dass er ihr im wahrsten Sinne des Wortes zu nahe trat. »Glücklich, meine
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