Schattenriss
abhandengekommen war. Darüber ein Rand, zackig und scharf wie bei einem Rasiermesser. Und allenthalben Löcher, die die Feuchtigkeit der verlassenen Fabrikanlage im Laufe der Zeit in das poröse Metall gefressen hatte.
Etwas, das sich wie ein großer, harter Käfer anfühlte, lief über Winnie Hellers ausgestreckte Hand. Sie riss den Arm zurück und schüttelte das Insekt voller Ekel ab, auch wenn sie eigentlich jede unnötige Bewegung vermeiden wollte. Wie hell mag es hier oben sein, wenn die Scheinwerfer am Grubenrand brennen?, überlegte sie, während sich ihre schweißnassen Hände wieder zu dem rettenden Fass zurücktasteten. Reichte es, die Waffe einfach ein Stück unter den Rand zu schieben, oder sollte sie lieber noch ein paar von diesen losen Steinen darüberschichten? Oder war es dann zu schwierig, die Waffe wiederzufinden, wenn es hart auf hart kam?
Ein unerwartetes Geräusch ließ sie mitten in der Bewegung innehalten. Sie duckte den Rücken noch tiefer und schielte seitlich an dem Fass vorbei zu den drei Türöffnungen hinüber. Aber abgesehen von den zuckenden Schatten, die der Widerschein des Fernsehers auf die Wände zwischen den düsteren Türhöhlen warf, konnte sie nichts entdecken. Dennoch war da urplötzlich wieder dieses merkwürdige Gefühl, als ob jemand aus der Dunkelheit heraus auf sie zukomme.
Oder bereits in ihrer Nähe war ...
Jemand, der sie ansah. Der beobachtete, was sie tat. Der jede ihrer Bewegungen verfolgte und daraus seine Schlüsse zog.
Weg hier!
Mit zittrigen Händen griff Winnie Heller unter ihre Jacke und zog die Pistole hervor. Einen Moment lang war sie versucht, die Waffe zu entsichern, um sich im Notfall verteidigen zu können, aber angesichts der noch immer ungewöhnlich tiefen Stille um sie herum wagte sie es nicht, ein derart auffälliges Geräusch zu machen. Also schob sie die Pistole, gesichert, wie sie war, unter die Wölbung des Fasses, allerdings nur so weit, dass sie sich auch im Dunkeln leicht wiederfinden ließ.
Dann trat sie tief gebückt und so leise wie möglich den Rückzug an, wobei sie sich zunächst bis an die rückwärtige Wand zurückzog, wo die Schatten tiefer waren und sie eine größere Chance hatte, unentdeckt zu bleiben, falls einer der Entführer unvermittelt zurückkehrte. Als sie die raue Mauer in ihrem Rücken spürte, blieb sie kurz stehen und sah sich nach der mittleren der drei Türöffnungen um.
Nichts. Keine Spur von Quentin. Freie Bahn.
Also entlang der Mauer bis zurück zum Generatorenraum, denn dort würde Quentin Jahn sie zweifellos als Erstes suchen, wenn er zurückkam!
Winnie Heller huschte weiter. Nach ein paar Metern blieb ihr rechter Fuß in einer rostigen Drahtschlinge hängen, aber sie fing sich und erreichte Bernds Privat-Pissoir im selben Augenblick, als sie ein paar Meter hinter sich das Knirschen von Mörtel wahrnahm.
Sie fuhr herum und sah die Silhouette eines Menschen. »Frau Heller?«
»Was um Gottes willen tun Sie denn hier?«
Horst Abreschs Gesicht wirkte fleckig im unsteten Licht des Fernsehers. »Nicht erschrecken«, flüsterte er, indem er zögerlich ein paar Schritte auf sie zu machte. »Aber Sie sind so lange fort gewesen. Und da dachten wir ...« Er unterbrach sich und starrte an ihr vorbei, geradewegs in Brutalo-Bernds Privat-Pissoir.
Und auch Winnie Heller hatte die Bewegung in ihrem Rücken registriert. Sie fühlte ein kaltes Kribbeln, als sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten und der Stress sämtliche Fasern ihres Körpers in einen Zustand erhöhter Bereitschaft versetzte.
»Keine Sorge«, flüsterte eine Stimme aus dem Dunkel hinter der Tür. »Ich bin’s nur.«
Quentin Jahn stand nur Armlängen von ihr entfernt, aber sie konnte nicht viel von ihm erkennen. Zu tief waren die Schatten, die ihn umgaben.
»Hey«, flüsterte sie. »Ich dachte, Sie wollten ...«
Doch der Zeitschriftenhändler unterbrach sie sofort wieder, indem er energisch auf sie zutrat, einen Zeigefinger an seine Lippen legte und ihr auf diese Weise bedeutete, dass sie still sein sollte.
»Sie müssen Bewegungsmelder installiert haben, gleich nachdem wir zur Toilette gewesen sind«, raunte er ihr ins Ohr, und seine Stimme verriet zum ersten Mal im Verlauf dieser Geiselnahme so etwas wie Angst. »Der Gang dort draußen ist voll davon.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
Winnie Heller hatte das Gefühl, als husche ein Hauch von Verachtung über die asketischen Züge des Zeitschriftenhändlers. »Vertrauen Sie
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