Schattenriss
Erklärung für das, was gerade geschah. Ihre von der Entfernung verzerrten Stimmen flatterten zwischen den umstehenden Gebäuden wie ein Schwarm verirrter Vögel, Widerhall der Angst.
Wie lange es dauert, bis jemand die richtigen Schlüsse zieht, dachte er mit leisem Befremden, und fast bedauerte er, dass er sich nicht länger aufhalten konnte. Es hätte ihn durchaus interessiert, zu beobachten, wer wann was tat. Oder nicht tat. Fast wie eine Studie, dachte er amüsiert. Massenpsychologie. Otto Normalverbrauchers Verhalten in Extremsituationen. Durchaus nicht uninteressant in Zeiten, in denen sich die Kriege am anderen Ende der Welt abspielten.
Er warf einen letzten Blick auf das Chaos, das er angerichtet hatte, und registrierte flüchtig, dass erste Umsichtige bereits ihre Handys am Ohr hatten, um die Polizei oder doch zumindest einen Notarzt zu rufen. Dann schob er die Waffe unter seinen leichten Baumwollmantel zurück und ging langsam, aber nicht zu langsam davon.
5
Sie lagen dicht an dicht im Innern eines komplett entbeinten Vans. Um sie herum fluteten die Klänge irgendeines stupiden Popsongs, der mit ohrenbetäubender Lautstärke auf sie niederprasselte und vermutlich dazu dienen sollte, sie zu verwirren. Orientierungslos machen. Ablenken. Was auch immer.
Winnie Heller stemmte ihre Füße gegen eine der Seitenwände, um in den Kurven wenigstens einen Hauch von Halt zu haben, und versuchte gleichzeitig, ihren Kopf zu schützen, den ein fremdes Bein unerbittlich gegen etwas Hartes presste. Sehen konnte sie nichts. Die Männer, die sie entführt hatten, waren gründlich gewesen, was die Vorbereitung ihres Fluchtfahrzeugs anging. An keiner Stelle drang auch nur der geringste Lichtschein ins Wagen innere. Stattdessen tiefe, verwirrende Finsternis allenthalben.
Irgendwo in einer anderen Ecke des Vans wimmerte jemand. Winnie Heller hörte es durch die ewig gleichen Rhythmen, doch ob es ein Mann oder eine Frau war, hätte sie nicht sagen können. Und sie wollte auch gar nicht weiter darüber nachdenken, sondern versuchte, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Fahrt zu konzentrieren. Auf alles, was irgendwie wichtig sein konnte. Schließlich musste sie ein paar Antworten geben können, wenn das hier vorbei war.
Wenn es vorbei ist?, echote eine höhnische Stimme tief in ihr. Wenn es vorbei ist? Es hat doch noch gar nicht richtig angefangen!
Winnie Heller schluckte, noch immer fassungslos, dass sie tatsächlich irgendwohin unterwegs waren. Dass niemand eingeschritten war. Dass es wirklich und wahrhaftig möglich zu sein schien, mitten in einem Land wie diesem eine Bank zu überfallen, ein paar Geiseln zu nehmen und anschließend vollkommen unbehelligt wieder von dannen zu ziehen. Aber genauso verhielt es sich. Oder?
Winnie seufzte und lauschte angestrengt auf das Motorengeräusch jenseits des Popsongs. Sie hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass die Fahrt besonders schnell verlief. Aber das war ja auch nicht verwunderlich, schließlich wollten diese Kerle nicht auffallen. Hin und wieder stoppte der Wagen, vermutlich an einer roten Ampel. Dann ging es weiter, ein normales Stadtverkehrstempo. Eine Kurve. Ein Stück geradeaus. Ampel. Kreuzung.
Die Zeit, hämmerte es hinter Winnie Hellers Stirn. Du musst dir die ungefähre Fahrtzeit einprägen. Um die Entfernung abschätzen zu können.
Der Kabelbinder, mit dem sie gefesselt war und der ihr schmerzhaft ins Fleisch schnitt, hinderte sie daran, einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen, also wusste sie sich nicht anders zu helfen, als zu zählen. Und irgendwie hatte sie tatsächlich das Gefühl, sich authentische Sekunden vorstellen zu können. Nicht zu schnell zu sein. Aber auch nicht zu langsam. Irgendwann hatte sie mal eine Quizshow gesehen, in der zwei Kandidaten vor die Aufgabe gestellt worden waren, ohne Hilfsmittel so genau wie möglich die Dauer einer Minute abzuschätzen, während sie mittels eines Kopfhörers den verschiedensten Geräuschen ausgesetzt waren. Winnie erinnerte sich gut daran, wie sehr sie diese vermeintlich leichte Aufgabe zunächst belächelt hatte. Bis sechzig zählen, das konnte doch schließlich so schwer nicht sein! Aber die beiden Probanden hatten letzten Endes erstaunlich weit danebengelegen, vielleicht auch, weil ihnen die Geräusche aus den Kopfhörern die Orientierung geraubt hatten. So wie ihr selbst jetzt die Rhythmen des Popsongs, die sie gegen ihren Willen in einen Kokon aus Klang hüllten. Nichtsdestotrotz
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