Schattenriss
Verhoeven runzelte die Stirn. »Auf die vage Möglichkeit hin, dass die Geiselnehmer dort auftauchen?«
»Ich habe bereits mit Bredeney gesprochen«, fuhr Hinnrichs mit der Energie eines Mannes fort, der nach einer quälend langen Zeit der Untätigkeit endlich wieder aktiv werden konnte. »Er und Werneuchen haben sich erboten, die Sache zu übernehmen. Inoffiziell, versteht sich.«
»Sollten wir ein solches Vorhaben nicht lieber zuerst mit den anderen besprechen?«, wandte Verhoeven ein.
Oho, ein Sportler , spottete ein imaginärer Werner Brennicke hinter seiner Stirn. Immer fair, immer im Team , was?!
»Vergessen Sie’s«, winkte Hinnrichs ab. »Wie Sie bereits selbst gesagt haben, ist die Sache viel zu vage, um sie an die große Glocke zu hängen. Und außerdem haben Sie doch gesehen, wie leichtfertig Goldstein mit den Ideen anderer Leute umgeht.«
Treffer, dachte Verhoeven mit einem neuerlichen Anflug von Bitterkeit. Dann spürte er den Vibrationsalarm seines Handys an seinem Gürtel. Er warf einen Blick auf das Display, doch die angezeigte Nummer sagte ihm nichts. Trotzdem entschied er sich, das Gespräch anzunehmen.
Das Erste, was er hörte, nachdem er seinen Namen genannt hatte, war das Geschrei eines Babys. Dann ein energisches: »Nein, jetzt nicht, nimm du ihn!«
Unwillkürlich musste Verhoeven an seine Tochter denken. Meiner Erfahrung nach gibt es keinen zuverlässigeren Indikator für die Qualität eines Menschen als die spontane Sympathie eines Kindes ...
»Hier ist Britta Karlstadt.«
»Hallo.«
»Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie einfach so störe, aber mir ist da noch etwas eingefallen, das Sie wissen sollten.«
»Ja?«
»Diese Frau aus der Bank ...« Verhoeven sah die junge Mutter förmlich vor sich, wie sie auf der Küchenbank neben dem ratternden Kühlschrank saß, chronisch erschöpft zwar, aber mit dennoch wachem Blick und einem Glanz von Glück auf dem Gesicht. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass sie damals ihr Geld und ihre Brieftasche fallenlassen hat und dass ich ihr geholfen habe, alles wieder aufzuheben, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Verhoeven. »Ich erinnere mich.«
Die junge Mutter räusperte sich. »Es ist wirklich zu dumm, dass mir das erst jetzt wieder einfällt, aber unter den Sachen, die ich aufgehoben habe, war auch der Personalausweis dieser Frau. Und als ich ihn ihr wiedergab, habe ich zufällig einen Blick darauf geworfen.«
Verhoeven hielt den Atem an.
Britta Karlstadt schien es zu spüren und bemühte sich eilig, nicht allzu große Hoffnungen in ihm zu wecken. »Ich weiß nur ihren Vornamen«, bekannte sie, »aber der war genauso außergewöhnlich wie die Frau selbst.«
»Wie hieß sie?«, fragte Verhoeven mit vor Aufregung heiserer Stimme.
»Ylva«, antwortete die junge Bankangestellte. »Ihr Name war Ylva. Vorne mit einem Y und hinten mit V.« Jetzt lachte sie. Genauso jung und ungezwungen, wie er sie in Erinnerung hatte. »Sie halten mich wahrscheinlich für komplett bescheuert, aber wie ich Ihnen schon sagte, war meine Wahrnehmung damals gerade in Bezug auf Vornamen ziemlich selektiv. Na ja, und dieser Name sprang mir im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge. Noch dazu, wo ich erst ein paar Sekunden zuvor schon einen anderen Namen gehört hatte, der mir vollkommen unbekannt war.«
»Das hilft uns mehr, als ich Ihnen sagen kann«, entgegnete Verhoeven, während Hinnrichs ihn vor lauter Neugier beinahe aufspießte mit Blicken.
»Wirklich?« Britta Karlstadt schien erleichtert zu sein. »Das freut mich.«
Nach ein paar Worten des Danks beendete Verhoeven das Gespräch und notierte den Namen, den die junge Bankangestellte ihm genannt hatte, auf einer alten Parkquittung, die er zufällig in der Hosentasche hatte.
»Wer ist Ylva?«, fragte Hinnrichs, der ihm über die Schulter blickte.
»Unsere Unbekannte aus der Bank.«
Sein Vorgesetzter zog die Augenbrauen hoch. »Das dürfte die Suche wesentlich erleichtern.«
»Ja, vermutlich.«
»Noch immer skeptisch, was?« Burkhard Hinnrichs bedachte ihn mit einem Blick, der zumindest einen Anklang von Verständnis spiegelte. Etwas, das für den Leiter des KK 11 in etwa so typisch war wie Eisbären für die Sahara. »Na ja, vielleicht haben Sie recht und es ist tatsächlich nur ein Strohhalm. Aber ein Strohhalm ist besser als nichts.«
Verhoeven wandte den Kopf, als am anderen Ende des Flurs der SEK-Beamte, der an der Haustür bereitstand, nach dem kabellosen Empfänger in seinem Ohr tastete. Er hörte zuerst eine
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