Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
fahren?«
    »Ich ... Nur einmal«, stotterte er. Und in Gedanken fügte er hinzu: Und das ist definitiv schon einmal zu viel!
    Der Mann hinter der Scheibe grunzte und schob ihm einen Chip samt Wechselgeld durch den Schlitz über der Ablage.
    Verhoeven verstaute die Münzen in seiner Hosentasche und ging über die Rampe zurück, um darauf zu warten, dass die laufende Fahrt zu Ende ging.
    Wer Angst hat, kann jederzeit aussteigen , scherzte die Stimme des unsichtbaren Ansagers, während das Schlangenmonstrum kurzzeitig fast zum Stehen kam, um gleich darauf wieder neue, rasende Fahrt aufzunehmen.
    Verhoeven bemühte sich, nicht nach rechts zu sehen, während er ging. Trotzdem wurde ihm schwindlig. Er dachte an die Karussells seiner Kindheit, die langsamer gewesen waren. Weitaus langsamer. Oder war er schlicht und einfach nicht mehr so belastbar wie früher? Wurde er älter, reifer, vorsichtiger?
    Vor ihm, am Fuße des Karussells, erhob sich die undurchdringliche Wand der Zuschauer. Eltern, deren Sprösslinge lieber alleine fuhren. Jugendliche, die kein Geld mehr hatten und mit triefigen Augen dem ausgelassenen Gejohle ihrer Freunde lauschten. Spanner, die von vorneherein nichts anderes wollten als beobachten. Gesichter, Ängste, was auch immer.
    Einer dieser Menschen könnte er sein, dachte Verhoeven, indem er seine Blicke unauffällig über die Gesichter gleiten ließ, deren Konturen in den flackernden Lichtern verschwammen. Maik Voigt könnte dort unten stehen und mich beobachten, aus der Sicherheit der Masse heraus, die nicht ahnt, dass sie als Kulisse für den letzten Akt dieser Posse dient.
    Wir haben eine finale Galgenfrist von vierundzwanzig Stunden , erinnerte ein imaginärer Goldstein hinter Verhoevens Stirn. Und meiner unbedeutenden Einschätzung nach ist diese Galgenfrist das Letzte, was wir kriegen werden.
    Verhoevens Augen wanderten weiter. Was, um alles in der Welt, war mit seinen Kollegen? Waren auch sie unter den Wartenden? Und falls ja, warum versuchte niemand Kontakt zu ihm aufzunehmen? Warum ließ ihn niemand wissen, dass er nicht allein war? Oder hatten sie ihn längst verloren? War er auf sich gestellt, ganz allein auf sich selbst?
    Als die Schlange zum Stehen gekommen war, ging Verhoeven auf einen der Wagen zu, doch eine Gruppe von Jugendlichen war schneller. Einer der Teenager warf ihm einen Blick zu, der sagte, dass er es mit seinen achtunddreißig Jahren doch vielleicht lieber irgend wo in einem Altenheim versuchen möge. Dann schnappte der Sicherungsbügel vor ihm ein, und Verhoeven fühlte sich ausgesperrt.
    Im nächsten Wagen saß bereits ein ziemlich dickes Mädchen. Verhoeven schätzte sie auf etwa dreizehn oder vierzehn, und er fragte sich, zu wem sie gehören mochte. Ob sie überhaupt zu jemandem gehörte. Sie blickte sich nicht um, sah nicht zum Rand, wo die Zuschauer standen, sondern starrte einfach auf den Sicherungsbügel vor sich.
    »Darf ich?«
    Das Mädchen nickte nur.
    »Danke.« Verhoeven schob die Geldtasche unter den Sitz und blickte sich abermals um. Maik Voigt war da, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Er sah ihn an, jetzt, in diesem Augenblick, und verfolgte jeder seiner Bewegungen.
    Als der scheppernde Ansager den Beginn der Fahrt verkündete, begann Verhoevens Herz schneller zu schlagen. Allerdings weniger aus Angst vor dem rasenden Ritt, der ihm bevorstand, sondern in Erwartung dessen, was nun wohl als Nächstes geschehen würde. Was würde Voigt von ihm verlangen? Würde er nach Selinger fragen? Und wo und wann würde die Übergabe statt finden?
    Verhoeven sah auf den Wagenboden hinunter, wo Dreck und Haare an zurückgelassenen Kaugummis klebten. Vielleicht will er, dass ich die Tasche nach Beendigung der Fahrt einfach stehen lasse, dachte er, während links und rechts Farben vorbeiflogen. Der klebrige Geruch von Zuckerwatte und heißen Mandeln schlug ihm ins Gesicht, und seine Hüfte tat weh, als er von den Fliehkräften unbarmherzig in die äußere Ecke des Sitzes gedrückt wurde. Die Fahrt wurde schneller, und das dicke Mädchen neben ihm rutschte langsam, aber sicher in seine Richtung. Verhoeven fühlte ihre Körperwärme an seinem Oberschenkel, aber sie sah nicht herüber zu ihm, sondern starrte immer noch auf den fleckigen Sicherungsbügel hinunter. Dass ihr die Fahrt Spaß machte, wagte Verhoeven zu bezweifeln.
    Er hob das Handy ans Ohr und lauschte gespannt in die knisternde Stille, die im Moloch des Lärms ringsum umso aggressiver und unausweichlicher

Weitere Kostenlose Bücher