Schattenriss
langweilig. Aber dafür bin ich zuverlässig und – zumindest glaube ich das – auch einigermaßen geduldig. Doch noch während Verhoeven über den Subtext seiner Antwort nachdachte, fiel ihm auf, dass er nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. Von seiner gesamten Spielanlage her war er zwar ohne Zweifel ein Grundlinienspieler, aber er hatte noch nie eine gute Kondition gehabt, weshalb er nach einer Reihe von gänzlich unnötigen Niederlagen gegen Spieler, die ihn in endlosen Ballwechseln über die gesamte Länge und Breite des Platzes zermürbt hatten, dazu übergegangen war, die schnelle Entscheidung am Netz zu suchen. Er hatte seinen Aufschlag verbessert und stundenlang Angriffsbälle trainiert. Und er wusste, wer immer ihn heute spielen sehen würde, käme nie auf die Idee, dass er etwas anderes als einen Angriffsspieler vor sich hatte.
»Und sonst?«
Er zuckte zusammen. »Was meinen Sie?«
»Außer Tennis. Was machen Sie sonst?«
»Ich bin schon froh, wenn ich mal Zeit für eine Trainerstunde finde.«
»Keine Familie?«
Glauben Sie mir, ich habe eine Menge Erfahrung, was Lügen angeht ...
»Nein.«
»Nicht mal ’ne Mutter, was?«
Dieser Mann glaubt mir kein Wort, dachte Verhoeven mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend. »Doch, klar«, sagte er hastig. »Eine Mutter, einen Onkel und eine Tante. Und dazu eine Exfrau, aber die erwähne ich für gewöhnlich nur, wenn es sich partout nicht vermeiden lässt.« Er lauschte angestrengt in die Stille und fragte sich, wie Voigt auf seine Flapsigkeit reagieren würde.
Doch der Geiselnehmer schwieg.
Vor ihm tauchte der Musikexpress auf, ein schlangenförmiges Monstrum, das wellenförmig über eine angeschrägte Rampe raste. Aus einem unsichtbaren Mikrophon schepperte eine sonore Männerstimme.
Wollt ihr schneller?
Die Frage war rein rhetorisch, wurde aber nichtsdestotrotz von einem vielstimmigen Kreischen beantwortet.
Noch schneller?
Verhoeven trat an die Rampe und wartete auf eine neue Anweisung des Mannes, der ihn lenkte wie ein Marionettenspieler seine Puppe. Vor ihm kreischten die Mädchen hinter ihren Sicherheitsbügeln. Eine Mischung aus Vergnügen und nackter Angst. Seine Augen blieben an einem hübschen, ausdrucksvollen Gesicht hängen. Das Mädchen war blond und wirkte in seiner entrückten Zartheit beinahe wie eine jüngere Ausgabe von Inger Lieson. Was mache ich eigentlich, wenn Voigt mich nach Hans Selingers Verbleib fragt?, überlegte er, während die Sorge in ihm raumgreifend wurde. Was mache ich, wenn er sich nicht zufriedengibt mit dem nackten Namen, mit dem er nach dem Untertauchen des ehemaligen Stasispitzels ohnehin nichts mehr anfangen konnte und den er ... Verhoeven straffte die Schultern. Ja, den er aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso längst kannte! Er nickte unmerklich vor sich hin. Ylva Bennet kannte Hans Selinger als Hans Selinger. Außerdem wusste sie ganz offenbar, unter welchem Decknamen er für die Staatssicherheit gearbeitet hatte. Was sie vermutlich nicht wusste, war der Name, unter dem er jetzt lebte. Oder? Verhoeven stellte die Geldtasche neben sich auf dem Boden ab, während der Musikexpress allmählich wieder langsamer wurde. In einem der Wagen kämpften ein paar halbwüchsige Jungen mit ihrem Sicherheitsbügel. Einer der Schausteller bemerkte es und sprang direkt neben Verhoeven mit geübter Routine auf die rotierende Scheibe. Dann bewegte er sich wieselflink entgegen der Fahrtrichtung auf den Wagen der Jungen zu. Ein einziger Griff, und der Bügel saß. Anschließend ließ sich der Mann elegant wie ein Surfer Richtung Kassenhäuschen tragen, wo er absprang und einer Gruppe von aufgetakelten Mädchen zuzwinkerte, die bereits für die nächste Fahrt anstanden.
Im selben Moment meldete sich die Stimme des Geiselnehmers zurück. »Fahren Sie eine Runde.«
»Bitte?«
»Kaufen Sie sich einen Chip und steigen Sie in dieses gottverdammte Ding.«
Verhoeven tastete in seiner Hosentasche nach Kleingeld, fand aber keines. Also zog er das Portemonnaie aus seinem Sakko und entnahm ihm einen Zwanzigeuroschein.
»Wie viele?«
Er blickte verwirrt hoch. »Verzeihung?«
Der Mann hinter der Glasscheibe hatte eine Narbe quer über der Stirn und musterte ihn mit unübersehbarer Skepsis. Wahrscheinlich merkt man mir mehr als deutlich an, dass ich nicht freiwillig hier bin, dachte Verhoeven, indem er zu der Reisetasche hinuntersah, die wie ein schwarzer Fremdkörper zwischen seinen Fußgelenken klemmte.
»Wie oft wollen Sie
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