Schattenriss
lassen. Dort hatte er auf Geheiß des Entführers sein Auto abgestellt und war zu Fuß weitergegangen.
Er hatte zunächst nicht begriffen, was die Aktion sollte, aber als er die endlosen Reihen von Karussells und Buden gesehen hatte, die sich vor ihm auftaten wie tiefe, glitzernde Schlünder, war ihm schlagartig klargeworden, warum Voigt ihn ausgerechnet hierhergelockt hatte.
Die Leute schoben sich in dicken Trauben an den Ständen vorbei, und Verhoeven dachte, dass es schwierig bis unmöglich werden würde, in diesem Chaos den Überblick zu behalten. Oder auch nur schnell die Richtung zu wechseln. Zu reißend war der Strom der Vergnügungswütigen. Zu entschlossen ihr Drängen. Wahrscheinlich gibt es in der gesamten Region derzeit keinen Ort, der schlechter zu überwachen wäre, dachte er. Falls die Kollegen mich nicht ohnehin längst verloren haben ...
Und dann?, pochte es hinter seiner Stirn. Was wird dann? Wenn das Lösegeld erst einmal übergeben ist, haben diese Kerle keinen Grund mehr, uns zu kontaktieren. Sie könnten rein theoretisch einfach verschwinden. Und wenn wir Pech haben, finden wir die Geiseln erst, wenn sie bereits verhungert sind. Oder verdurstet.
Während der Kirmeslärm um ihn herum mit jedem Schritt, den er tat, lauter wurde, versuchte er verzweifelt, so etwas wie eine akustische Bereitschaft zu wahren. Wildfremde Körper berührten ihn, hier und da traf ihn auch ein versehentlicher Schubser, der ihn vorübergehend ins Wanken brachte. Dazu brandete Musik an ihn heran. Von allen Seiten plärrende, wummernde Musik.
»Nehmen Sie die rechte Seite und gehen Sie geradeaus bis zum Musikexpress.«
»Was ist das?«
»Machen Sie Witze?!«
Nein, dachte Verhoeven mit einem Gefühl jäher Wut. Ganz bestimmt nicht! »Ich kenne mich da wirklich nicht aus.«
»Der Name steht dran.«
Also schön, du bist der Boss!
Verhoeven kämpfte sich vorwärts. Ein Kind streifte ihn mit seiner Zuckerwatte am Ärmel. Die Mutter sah es und begann zu schimpfen, ohne sich um Verhoeven oder den eventuell entstandenen Schaden zu kümmern. Er konnte es kaum fassen, dass die Menschen um ihn herum selbst in diesem Inferno aus Lärm so etwas wie Gespräche zu führen versuchten, indem sie einander sinn- und gnadenlos anbrüllten. Und am liebsten wäre er auf der Stelle geflüchtet.
Seine Finger fassten das Handy fester. Er hatte panische Angst, die Verbindung könne abreißen. Die letzte Chance ...
»Hallo?«, schrie er in das Mobilfunkgerät, als er es nicht mehr aushielt.
»Ja, ich höre Sie.« Voigts Stimme war in dem überbordenden Lärm ringsum tatsächlich kaum zu verstehen.
»Ich Sie aber nicht«, schrie Verhoeven in den Hörer. »Es ist so entsetzlich laut hier.«
Der Entführer schien zu lachen. »Erzählen Sie mir was.« »Bitte?« Verhoeven war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.
»Na los doch, reden Sie!«
Was sollte das denn jetzt?
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte Verhoeven, weil ihm tatsächlich nichts anderes einfiel. Auf Kommando sprechen hatte er noch nie gekonnt. Ebenso wenig wie auf Kommando pinkeln.
»Erzählen Sie mir, was Sie so machen.«
»Was meinen Sie?«
»Wenn Sie nicht arbeiten. Was tun Sie in Ihrer Freizeit?« Vorsicht! Das kommt dir zu nahe!
»Ich spiele Tennis«, versuchte Verhoeven es mit einer unverfänglichen Wahrheit, auch wenn er schon seit Jahren nicht mehr auf dem Platz gestanden hatte. Gleichzeitig fielen ihm die Bilder ein, die in Ylva Bennets Wohnung hingen. Bilder von Tennisspielerinnen.
Man kann auch in einem kleinen Zimmer galoppieren. Aber es tut zu weh ...
Verdammt, dachte Verhoeven, vielleicht hätte ich das jetzt nicht sagen sollen.
Doch in diesem Moment meldete sich Maik Voigt bereits wieder zu Wort: »Tennis, hm?«
»Ja.«
»Grundlinienspieler oder Serve und Volley?«
Verhoeven stutzte. War das ein Test?
Bei einem Mann von Voigts Intelligenz sollte man sehr genau abwägen, wann man lügt, mahnte ein imaginärer Goldstein. Und wann man es besser bleiben lässt ...
»Grundlinie.«
»Aha.«
Verhoeven beobachtete ein Kind, das am Rand der Autoscooterbahn stand und sich die Seele aus dem Leib schrie, der Kleidung nach ein Junge. Wahrscheinlich war die Antwort, die er gegeben hatte, genauso bezeichnend, als wenn er gesagt hätte: Stimmt, ja, im Grunde bin ich eher der defensive Typ, einer, der am liebsten erst mal abwartet. Introvertiert und mehr an der Taktik als am Draufhauen interessiert. Und ... Na ja, zugegeben, auch ein bisschen
Weitere Kostenlose Bücher