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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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und die Erleichterung darüber, endlich handeln zu können, stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    Verhoeven blickte ihm nach und dachte an die schmucklose Hochhauswohnung, in der die Terroristen der Roten Armee Fraktion Hanns-Martin Schleyer gefangen gehalten hatten. Die Bilder des erschöpft in die Kamera blickenden, nur mit einem Unterhemd bekleideten Arbeitgeberpräsidenten hatten seine Kindheit ebenso geprägt wie die Ölkrise, die damit einhergehende Diskussion über autofreie Sonntage, die Hasstiraden des Ayatollah Khomeini und die Fahndungsplakate mit den Gesichtern der meistgesuchten RAF-Mitglieder, die in jeder Postfiliale und zahlreichen anderen öffentlichen Gebäuden ausgehangen hatten. Verhoeven angelte sich eine der Thermoskannen, die inzwischen überall auf dem Tisch verteilt waren, und goss sich Kaffee nach. Er erinnerte sich gut daran, dass selbst der notorisch desinteressierte Schmitz damals wie gebannt vor dem Fernseher gesessen und die neueste Entwicklung des Falls Schleyer in den Nachrichten verfolgt hatte. Das können die nicht machen , hatte er wieder und wieder vor sich hingemurmelt, als sich abgezeichnet hatte, dass Helmut Schmidt hart bleiben würde. Verdammt noch mal, die können den Kerl doch nicht einfach opfern ...
    Opfern, wiederholte Verhoeven mit einem Gefühl wachsender Beklemmung. Was würden sie, was würde er ganz persönlich tun müssen, wenn es so weit war? Wie würden die Bedingungen aussehen, wenn es tatsächlich hart auf hart kam? Und was waren die Optionen?
    Er zuckte leise zusammen, als ihm auffiel, dass Monika Zierau ihn ansah.
    Die Psychologin hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, saß jedoch so, dass sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. Ihre ausdrucksvollen Züge spiegelten etwas, das Verhoeven beim besten Willen nicht näher hätte beschreiben können, das er jedoch trotzdem irgendwie als kühl empfand. Für diese Frau ist Winnie nichts als eine Geisel, dachte er, eine Ansammlung von Daten auf einem DIN-A4-Bogen. Eine von sieben Personen, die es zu analysieren und einzuordnen gilt, um am Ende den bestmöglichen Schnitt zu machen.
    Oder tat er Monika Zierau Unrecht? Verbarg die Psychologin ihre wahren Empfindungen hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit, weil sie sich Mitgefühl in ihrem Beruf nun einmal partout nicht leisten konnte? Verhoeven suchte ihren ausgemergelten Körper nach einem Hinweis auf eine versteckte Anspannung oder gar Nervosität ab, aber er wurde nicht fündig. Monika Zierau saß so lässig auf ihrem Stuhl, als befände sie sich im Kino oder in der U-Bahn. Vielleicht erfordert es tatsächlich ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit, wenn man in ihrem Beruf Erfolg haben will, überlegte Verhoeven, ohne sich auch nur im Mindesten mit diesem Gedanken anfreunden zu können. Goldstein wollte zuerst selbst gehen, aber Monika hat ihn umgestimmt , weil sie meinte, Männer kämen bei dem Kerl grundsätzlich nicht so gut . Also hat Goldstein diese Beamtin reingeschickt. Ohne Weste, versteht sich ...
    Verhoeven nickte leise vor sich hin.
    Ohne Weste, wiederholte etwas in ihm.
    Oder mit anderen Worten: gänzlich ungeschützt.
     
     
     

4
     
    Inger Lieson trat so heftig auf die Bremse, dass der Sicherheitsgurt ihr fast das Schlüsselbein brach.
    »Verflucht noch mal, hast du den Verstand verloren?«, schrie sie zum Seitenfenster hinaus, doch Justin Böttcher hatte nur Augen für seinen Ball, der irgendwo unter dem Wagen sein musste. Er war drei oder vier Jahre alt, und Inger hatte den dringenden Verdacht, dass er von seinen Eltern, einem viel beschäftigten Arztehepaar, viel zu oft sich selbst überlassen wurde. Gut, im Haushalt der Böttchers gab es noch zwei ältere Schwestern und irgendein Kindermädchen, das kochte und Wäsche wusch und all das. Aber das entband einen Ingers Meinung nach nicht von der elterlichen Sorgfaltspflicht. Und mit der konnte es ja wohl nicht allzu weit her sein, wenn der dreijährige Sohn der Familie nach Einbruch der Dunkelheit noch mutterseelenallein auf der Straße herumlief!
    Inger stieg aus dem Wagen und packte den Jungen sanft bei den Schultern. »Wo ist deine Mutter?«
    Der Kleine gab keine Antwort. Stattdessen machte er mit einer beinahe wütend heftigen Bewegung seine Schultern los und lief um den Wagen herum.
    Inger erwischte ihn gerade eben noch am Handgelenk. »Oh nein«, rief sie, »du bleibst schön hier, junger Mann«, woraufhin der Junge in ein geradezu markerschütterndes Gebrüll ausbrach.
    »Was ist denn

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