Schattenriss
Bedürfnissen.
Sie schloss die Haustür auf und fragte sich, was Sven wohl von ihrem jetzigen Leben halten würde.
Er würde es nicht verstehen, gab sie sich selbst zur Antwort. Du verstehst es ja selbst nicht , stimmte Inger, die Stewardess, ihr zu.
Inger Lieson stellte den Blumenkorb neben dem Garderobenschrank auf den Boden und hängte ihre Lederjacke gewissenhaft auf einen der klobigen Bügel. Dabei fiel ihr Blick auf den Anrufbeantworter, wo ein kleines grünes Lämpchen darauf hinwies, dass während ihrer Abwesenheit Nachrichten eingegangen waren.
Sie schlüpfte aus ihren Pumps und drückte auf die Wiedergabetaste.
»Hi Schwesterherz, ich bin’s.«
Gunnel.
»Wie geht’s dir so?«
Tja, dachte Inger, wenn ich das wüsste ...
»Du ... Hör mal, ich bin nächste Woche in der Gegend und besuche Papa und all das. Und da dachte ich ... Hey, vielleicht könnten wir zusammen irgendwo einen Kaffee trinken gehen oder so?«
Die Ärmste braucht mal wieder Geld, schloss Inger unsentimental. Ihre Schwester war nicht nur chronisch pleite, sondern darüber hinaus auch der Ansicht, dass Inger mit ihrer Heirat das große Los gezogen habe und somit problemlos ein Stück von dem Glück, das ihr widerfahren war, abgeben könne. Und warum auch nicht? Inger lehnte den Rücken gegen die Wand und griff nach den sündhaft teuren Schuhspannern aus Zedernholz, die die Verkäuferin der noblen italienischen Schuhboutique ihr aufgeschwatzt hatte. Am Ende war es vielleicht das Beste an dieser Ehe, dass sie es ihr ermöglichte, sich die Liebe ihrer Schwester zu kaufen. Zumindest bis zu einem gewissen Grad.
»Also ruf mich an, ja?«
Na klar, dachte Inger. Mach ich.
»Okay«, antwortete die Stimme ihrer Schwester, fast so, als habe Gunnel ihre Gedanken vorausgeahnt. »Dann also ciao erst mal. Und bis bald.«
»Ja, bis bald«, sagte Inger und stieß sich von der Wand ab, während der Anrufbeantworter mittels eines kurzen Pieptons kundtat, dass er noch weitere Nachrichten für sie bereithielt.
Warum rufen mich die Leute eigentlich nie auf dem Handy an?, überlegte Inger. Immerhin hat das Ding so viele Extras, dass es mir vermutlich auch noch Tee machen würde, wenn ich das richtige Knöpfchen erwische ...
»Hallo, Liebling.«
Walther.
»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass ich nach der Arbeit noch mit Quentin Schach spiele.«
Weiß ich doch, dachte Inger. Weiß ich ... Und sei doch, verdammt noch mal, nicht so verflucht gewissenhaft!
»Es könnte also ein bisschen später werden.«
Inger stutzte. Dieser letzte Satz klang derart klassisch, dass er vermutlich rein gar nichts bedeutete. Dennoch vermittelte er ihr augenblicklich ein ungutes Gefühl.
Es könnte also ein bisschen später werden ...
»Ach ja, und denk bitte daran, dass Dietmar und Olga am Sonntag zu uns zum ...«
Es könnte später werden, wiederholte eine Stimme in Ingers Kopf.
»... wir am besten noch besprechen.«
Später werden ...
»Also gut. Bis dann.«
Knapp. Prägnant. Ganz wie immer.
Und doch fühlte Inger einen leisen Schwindel, als sie ihre Pumps im Schuhschrank neben der Tür verstaute. Walther war zwar ein ganzes Stück älter als sie, aber mit seinen einundsechzig Jahren war er keineswegs alt. Und den Zeitpunkt, an dem er tatsächlich »jenseits von Gut und Böse« sein würde, wie Ingers Mutter das immer ausgedrückt hatte, würde sie vermutlich gar nicht erst erleben. Zumindest nicht, wenn sie so weitermachte wie bisher, zu wenig aß und zu viel rauchte. Dazu die Tabletten, um überhaupt mal ein paar Stunden schlafen zu können, und die anderen, um am Morgen danach wieder wach zu werden.
Tjaaaa, und wie gesund wird es wohl sein, sich ein Serum aus den Kämmen halbtot geborener Fabrikhähne unter die Haut spritzen zu lassen ?, meldete sich Inger, die Stewardess, wieder einmal spöttisch zu Wort.
Hauptsache glatt , brachte Inger, die Bankiersgattin, die Rivalin zum Schweigen, während der Anrufbeantworter erneut piepste.
»Ich bin’s noch mal«, meldete sich die angenehme Stimme ihres Mannes erneut.
»Was denn noch?«, seufzte Inger. Was willst du von mir?
»Du, vergiss das mit dem Schach. Chappuis hat angerufen. Ich muss nach Genf. Verdammt dringende Sache. Ich nehme die Maschine um kurz nach eins und rufe dich dann von dort aus an, einverstanden?«
Nein, dachte Inger, ich bin nicht einverstanden. Aber das spielt keine Rolle.
Sie ging in die Küche hinüber und schob ein Kaffeepad in den Automaten. Dann goss sie Milch in eine
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