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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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passiert?«, fragte Lucille Böttcher, die im Laufschritt herbeigerannt kam.
    »Ihr Sohn wäre mir um ein Haar ins Auto gelaufen«, erklärte Inger, ohne dass es ihr gelungen wäre, den Vorwurf zu unterdrücken, der in ihren Worten mitschwang.
    »Aber Justin«, tadelte ihre Nachbarin den kleinen Missetäter in nicht gerade Furcht einflößendem Ton, wobei sie sich direkt vor ihren Sohn auf den Bürgersteig kniete. »Wie oft haben wir dir schon gesagt, dass du nicht einfach weglaufen kannst?«
    Können kann er schon, korrigierte Inger bissig, indem sie sich nach dem honigmelonengroßen Ball bückte, der hinter dem linken Vorderreifen hervorschaute.
    »Entschuldigen Sie bitte vielmals, aber ...« Lucille Böttcher erhob sich ein wenig mühevoll aus ihrer knienden Haltung und nahm ihren Sohn auf den Arm, was dieser mit neuerlichem Wutgebrüll quittierte. »Wir sind gerade erst nach Hause gekommen, wissen Sie, und ich habe wohl einen Moment lang nicht aufgepasst.«
    »So etwas kommt vor«, erwiderte Inger ohne Freundlichkeit. Die Formulierung einen Moment lang war derart euphemistisch, dass es schon fast eine Frechheit war. Noch dazu, wo die gesamte Nachbarschaft ein Lied davon singen konnte, dass Lucille Böttchers Kinder zu jeder erdenklichen Tageszeit unbeaufsichtigt auf der Straße herumliefen und dabei jede Menge Unsinn anstellten. »Aber es ist ja zum Glück nichts geschehen.«
    »Ja, Gott sei Dank«, sagte Lucille Böttcher, die es mit einem Mal ziemlich eilig zu haben schien. An den Schlägen und Tritten ihres Sohnes vorbei griff sie nach dem Ball, den Inger ihr entgegenstreckte. »Es ist nicht ganz leicht mit Justin. Er ist ...« Sie lächelte ein wenig dümmlich. »Nun ja, er ist lebhaft.«
    Inger nickte. Zugleich fühlte sie, wie ihre Hände zu zittern begannen, und eine Welle von Kälte breitete sich nach und nach über ihren gesamten Körper aus. Wie Wasser, das unaufhaltsam höher stieg. Wie nannte man so was? Verspäteten Schock? Posttraumatische Belastungsreaktion?
    »Na, dann noch einen schönen Abend«, rief Lucille Böttcher, die bereits am Gartentor ihres Hauses war und sich dort plötzlich ihrer nachbarlichen Höflichkeitspflichten zu erinnern schien.
    »Ja.« Inger rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Ihnen auch.«
    Sie ignorierte die Schwärze, die sich vor ihren Augen ausbreitete, und stieg wieder in den Wagen, wobei ihr unvermittelt der Gedanke kam, dass das Leben wirklich verdammt ungerecht war. Sie hatte sich ein Kind gewünscht, seit sie denken konnte, doch das Schicksal hatte ihr diesen Wunsch verwehrt. Stattdessen bekamen Frauen wie Lucille Böttcher ein Baby nach dem anderen. Sie vermehrten sich wie die Karnickel, verdienten ihr eigenes Geld, verspürten nicht den leisesten Anflug von schlechtem Gewissen, wenn sie ihre Sprösslinge bereits im zarten Alter von sechs Monaten in die Obhut fremder Leute gaben, und schafften es darüber hinaus offenbar auch noch spielend, ihren Ehemännern Geliebte, Ehefrau, Freundin und wer weiß was sonst noch alles in einer Person zu sein ...
    Inger lenkte den Audi die breite Auffahrt hinauf und hielt direkt vor der Garage. Dann nahm sie den hübsch mit Hyazinthen und Narzissen bepflanzten Korb, den sie in dem kleinen Blumenladen neben der Sprachenschule entdeckt hatte, aus dem Kofferraum. Er duftete nach Moos und Sonne und erinnerte sie an den Sommer, in dem sich ihr Traum von einem eigenen Kind beinahe erfüllt hätte.
    Sozusagen um ein Haar ...
    Damals war sie mit Sven zusammen gewesen. Sven, dem ewig brotlosen Künstler, der sich aus ihrem Kühlschrank bedient hatte, wenn das Geld, das er als Pianist in einer schäbigen kleinen Bar verdiente, wieder einmal nicht für den ganzen Monat gereicht hatte. Sven, der ebenso planlos wie chaotisch gelebt hatte, der der Meinung gewesen war, es komme ohnehin immer alles anders, als man denke, weshalb man sich getrost auch noch den größten Dummheiten hingeben dürfe. Sven, dessen Vorstellung von Urlaub darin bestanden hatte, kurz hinter dem Ortsausgangsschild ihres Heimatdorfs anzuhalten und zu fragen: »Links oder rechts?«, wobei »links« gleichbedeutend gewesen war mit »Frankreich, Spanien, Portugal oder na ja, mal sehen« und »rechts« gleichbedeutend mit »Österreich, Italien, Griechenland oder na ja, mal sehen«.
    Auf diese Weise waren sie oft tage- und wochenlang ziellos herumgefahren, und wenn sie auf kein erschwingliches Hotel gestoßen waren, hatten sie im Auto übernachtet. In einem Zweier Golf,

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