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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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wohlgemerkt, dessen Polster den unausrottbaren Geruch von altem Zigarettenrauch, verschütteter Cola, Schweiß und Gummibärchen verströmten.
    Und doch hatte Inger niemals in ihrem Leben besser geschlafen als in jenen Nächten und niemals besser gegessen als an den Morgen danach, wenn Sven und sie in irgendeinem kleinen Supermarkt frisches Brot und Käse und Instantkaffee gekauft und anschließend am Strand oder auf einer Wiese gefrühstückt hatten.
    Sie starrte auf den Blumenkorb in ihrer Hand hinunter und stellte überrascht fest, dass sie lächelte. Wo er wohl stecken mochte, Sven? Wie mochte er leben? Wo und mit wem?
    Sie hatten sich oft gestritten, laut und leidenschaftlich, ganz so, wie es ihrer damaligen Unbefangenheit entsprochen hatte. Und im Zuge eines solchen Streits war Sven eines Tages Knall auf Fall aus ihrem Leben verschwunden. Dass sie damals in der achten Woche schwanger gewesen war, hatte er nicht geahnt. Ebenso wenig wie sie hatte voraussehen können, dass der Mann, den sie liebte, nicht mehr zurückkommen würde.
    Sie fragte sich oft, ob sie etwas anders gemacht haben würde, wenn sie gewusst hätte, wie leicht es war, einander zu verlieren.
    Sie hatte lange darauf gewartet, dass Sven sich wieder bei ihr meldete. Auch später noch. Auch lange nach jenem schwarzumrandeten Vormittag in Bangkok, an dem sie ihr gemeinsames Kind auf einer schäbigen Hoteltoilette verloren hatte.
    Das macht das gottverdammte Klima hier , hatte ihre Kollegin von der Lufthansa gesagt, mit der sie sich damals Zimmer und Toilette geteilt hatte. Und dann hatte sie Inger flüchtig am Arm berührt und hinzugefügt: Hey, Kleines, mach dir nichts draus, okay? Du bist noch jung, und irgendwann kriegst du ein anderes. Und dann vergisst du, was dir heute geschehen ist ...
    Doch Inger war nicht wieder schwanger geworden.
    Und sie hatte auch nicht vergessen.
    Stattdessen war sie noch Jahre danach mit rasendem Herzklopfen zum Briefkasten gegangen, und jedes unerwartete Klingeln ihres Telefons hatte ihr ein paar hoffnungsvoll-schmerzliche Sekunden lang den Atem genommen. Aber Sven hatte weder angerufen noch geschrieben, noch hatte er eines Tages mit verschmitztem Lächeln und zerlumpten Jeans vor ihrer Tür gestanden und gesagt: »So, da bin ich wieder. Hättest du vielleicht Lust auf einen kleinen Ausflug?«
    Sie hatte das Internet durchforstet, Svens alte Freunde befragt, und irgendjemand hatte ihr erzählt, dass Sven nach Australien gegangen sei. Aber das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Italien, Südfrankreich, gut und schön, von ihr aus auch Tschechien oder Lettland, jetzt, da die Grenzen offen waren. Aber Australien? Sie sah auf ihre Blumen hinunter und schüttelte den Kopf. Sven liebte alles Alte. Europa und seine Geschichte. Traditionen, Klöster, Ruinen. Verwitterte Burgen und schummrige Weinkeller, die den Staub vergangener Zeiten atmeten. Da war Australien wirklich der letzte Ort auf der Welt, an dem sie sich ihn vorstellen konnte.
    Trotzdem hatte sie eines Tages ohne erkennbaren Grund zu warten aufgehört. Sie hatte nichts klären und nichts in Erfahrung bringen können, und die Ungewissheit über Svens Schicksal war so groß gewesen wie am ersten Tag. Und doch war ihr irgendwann aufgefallen, dass Telefone ganz unbemerkt wieder zu Telefonen geworden waren, funktionale, nichtssagende Geräte zur Kommunikation – nicht länger Träger unberechtigter Hoffnungen. Sie zuckte nicht mehr zusammen, wenn sie vor sich auf der Rolltreppe einen Mann entdeckte, dessen Haar auf dieselbe Weise rotgolden schimmerte wie Svens Haar, und sie war dazu übergegangen, verdächtige Briefumschläge ungeöffnet, ungeprüft und nahezu unsentimental in den Karton mit dem Altpapier zu werfen.
    Und dann war sie Walther begegnet ...
    Kinder? Nicht mit mir , hatte der erfolgsverwöhnte Banker gleich von Beginn an klargestellt. Und hinzugefügt: Ich bin jetzt in einer Phase meines Lebens, wo ich mich nicht mehr nur nach anderen richten will, verstehst du?
    Inger bezweifelte, dass ihr Mann sich jemals nach irgendwem anders als nach sich selbst gerichtet hatte, aber sie erinnerte sich daran, dass sie genickt hatte.
    Natürlich bist du jung und musst dir überlegen, ob du damit zurechtkommst .
    Zack, Klartext. Inger biss sich auf die Lippen. Als ob das irgendetwas änderte!
    Und wenn du den Eindruck hast, dass du lieber ...
    Oh nein, dachte sie, ich habe grundsätzlich keine Eindrücke. Zumindest nicht von mir selbst und meinen

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