Schattenriss
hätten sie uns aber wirklich lassen können, nicht wahr?«, bemerkte Quentin Jahn neben ihr, und voller Schrecken stellte Winnie fest, dass er ihrem Blick gefolgt war. Sie spürte, wie sie rot wurde, und hoffte inständig, dass es dem Zeitschriftenhändler nicht auffiel. Du musst unbedingt besser aufpassen, dachte sie verärgert. Im Moment bist du ein offenes Buch für jedermann!
»Tja«, entgegnete sie knapp. »Ist nicht zu ändern.«
Quentin warf ihr einen interessierten Seitenblick zu. »Worauf, denken Sie, wird diese Sache hinauslaufen?«
Das wüsste ich auch gern, dachte Winnie Heller. Laut antwortete sie: »Schwer zu sagen, aber ich hoffe, dass diese Kerle bald bekommen, was sie haben wollen. Und dass sie uns dann gehen lassen ...«
Er nickte und schwieg.
Und Winnie Heller überlegte, ob der Zeitschriftenhändler wohl über die Forderungen nachdachte, die die Entführer stellen würden. Oder ob er etwas völlig anderes im Sinn hatte. »Was ist eigentlich mit diesem Herrn Lieson?«, erkundigte sie sich, weil ihr die Frage in diesem Zusammenhang irgendwie naheliegend erschien. »Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum es diesen Leuten so wichtig war, ihn aufzuspüren?« Sie zögerte, bevor sie in bewusst naivem Ton hinzufügte: »Vielleicht, damit er ihnen den Tresorraum aufschließt oder so was in der Richtung?«
Quentin Jahn antwortete nicht sofort. Und als er ihr schließlich in die Augen schaute, glaubte Winnie Heller, eine leise Irritation in seinem Blick auszumachen. So, als ob sie irgendetwas gesagt oder getan hätte, das nicht zu dem Bild passte, das er sich von ihr gemacht hatte. »Wenn es um den Tresorraum gegangen wäre, hätten sie ihn ja wohl kaum herbringen müssen«, stellte er sachlich fest, und obwohl er nicht explizit zu Evelyns Matratze hinübersah, erkannte Winnie, dass er aus ihrem Vorhandensein dieselben Schlüsse gezogen hatte wie sie selbst.
»Aber weshalb sonst?«, insistierte sie. »Warum wollten diese Kerle so unbedingt mit Herrn Lieson sprechen?«
Quentin Jahn hob abwehrend die Hände. »Glauben Sie mir, ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Es klang durchaus glaubwürdig, wie er das sagte. Aber sicher war sie nicht. »Wie gut kennen Sie Herrn Lieson denn?«, fragte sie, und zu ihrer Überraschung schien die Frage den Zeitschriftenhändler ernsthaft ins Grübeln zu bringen.
»Wie gut kennt man einen Menschen, mit dem man beinahe täglich zu tun hat?«, erwiderte er nach einer ganzen Weile lakonisch.
Winnie Hellers Fußspitze zog eine krumme Linie in den Schutt, während für einen flüchtigen Moment Verhoevens ebenmäßiges Gesicht vor ihr aufblitzte. Ihr Vorgesetzter und sie verbrachten Woche für Woche einen Großteil ihrer Zeit miteinander, und doch hätte sie nicht behaupten können, dass sie irgendetwas über ihn wusste. Sie kannte seine Frau. Sie kannte seine Tochter. Sie wusste, dass Verhoeven privat einen Skoda fuhr, dass er seinen Kaffee mit Milch trank und dass sein Schwiegervater als Zahnarzt ein kleines Vermögen verdient und selbiges unter anderem in ein ganz und gar überflüssiges Privatflugzeug investiert hatte. Aber sonst? Was wusste sie sonst? Hatte sie auch nur die geringste Ahnung davon, was im Leben ihres Vorgesetzten zählte? Wusste sie, woher die Brüche kamen, die hin und wieder zu Tage traten, wenn Verhoeven übermüdet oder nervös war? Hätte sie sagen können, warum er nicht im Telefonbuch stand und weshalb selbst Kollegen, die ihn viel länger kannten als sie selbst, immer wieder bei Pralinen und Gutscheinen landeten, wenn es um Verhoevens Geburtstag oder irgendein blöd sinniges Jubiläum ging?
Ihre Augen suchten wieder Quentin Jahn, der die Beine in einer Art Schneidersitz dicht an den Körper gezogen hatte und nachdenklich auf seine Hände hinabschaute. »Wissen Sie zufällig, ob Herr Lieson einen Spitznamen hat?«
Er hob den Blick. »Sie meinen so etwas wie ... Malina?«
Da war ein leises Zögern gewesen vor dem letzten Wort, ein kurzes Innehalten, dessen Bedeutung sich Winnie Heller nicht restlos erschloss. »Ja«, sagte sie. »Genau das habe ich gemeint.«
Quentin Jahn schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen Namen niemals im Zusammenhang mit Walther gehört.«
Winnie Heller horchte auf. Eine etwas seltsame Formulierung, wie ihr schien. Aber sollte sie wirklich an dieser Stelle einhaken? Oder war es vielleicht sogar gefährlich, ein zu großes Interesse an dem Banker zu zeigen? An ihm und diesem eigenartigen Namen, den der
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