Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
Vom Netzwerk:
Einschätzung nach das Zeug zur Heldin gehabt hatte, jetzt irgendwo dort oben in dieser langsam, aber sicher auskühlenden Fabrikanlage lag …

III
 
 
Die Partei, die Partei, die hat immer recht!
Und, Genossen, es bleibe dabei,
Denn wer kämpft für das Recht,
Der hat immer recht.
Gegen Lüge und Ausbeuterei.
DDR-Lied
     
     
     
    Psychiatrische Klinik Storkow bei Berlin, September 1974
     
    Sie haben ihr gesagt, dass ihr Sohn gestorben ist.
    Sie hat geantwortet, dass sie ihn sehen möchte.
    Nein, haben sie gesagt, das sei unmöglich.
    Glauben Sie mir , hat die Schwester – nicht die bebrillte, die mit dem Roman auf den Knien, sondern eine andere – hinzugefügt, nachdem die Ärztin den Raum verlassen hatte, glauben Sie mir, es ist besser so .
    Besser so ...
    Die beiden Worte haben einen Nachhall, den sie bis heute spüren kann.
    Besser für wen?
    Sie hat nicht gefragt. Stattdessen hat sie geschrien. Wieder geschrien. Genau wie in dem Moment, in dem sie ihren Sohn verloren hat, in dem sie ihn diesem Zerrbild von einer Welt preisgeben musste, der Schwärze, die ihn verschluckt hat, spurlos, auf Nimmerwiedersehen. Er ist nicht tot, hämmert es hinter ihrer Stirn. Er kann nicht gestorben sein. Vollkommen ausgeschlossen. Er hatte eine ganz normale Farbe. Rosig, um nicht zu sagen: gesund. Dazu erstaunlich kräftiges schwarzes Haar. So viel immerhin hat sie sehen können, bevor die blonde Ärztin etwas von einem Dammriss gemurmelt und die hastig angeordnete Narkose ihr das Bewusstsein geraubt hat. Oh ja, ihr Baby hat vollkommen gesund ausgesehen, mit allen zehn Fingern und nur einem Kopf und all diesen anderen Dingen, auf die es gemeinhin ankommt.
    Eine Mutter erkennt so etwas, erkennt es auf den ersten Blick, da muss sie das Neugeborene gar nicht erst lange ansehen.
    Und doch haben sie ihr beim Aufwachen gesagt, dass ihr Sohn gestorben ist ...
    Er sei krank gewesen und eine knappe Stunde nach der Geburt friedlich eingeschlafen. Und ob sie denn auch schon Babybekleidung gekauft habe, und wenn ja, möge sie doch bitte einen Strampelanzug und ein Jäckchen an einem der nächsten Tage beim zuständigen Bestattungsinstitut vorbeibringen.
    Was für ein Bestattungsinstitut?, hat sie gefragt, halb ohnmächtig vor Schreck und Unverständnis. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas mit einem Bestattungsinstitut zu tun. Und überhaupt, ich gehe nirgendwohin, bevor ich ihn nicht gesehen habe. Haben Sie das jetzt endlich verstanden? Also zeigen Sie mir meinen toten Sohn! Auf der Stelle!
    Das sei bedauerlicherweise unmöglich, haben sie geantwortet, im gleichen ruhigen Tonfall wie zuvor.
    OH DOCH, hat sie geschrien, zu laut natürlich. Zu unbedacht, zu hysterisch (Aber hätte die Art und Weise denn tatsächlich irgendeinen Unterschied gemacht?), DAS IST MÖGLICH. Ich habe RECHTE, verstehen Sie das? Menschenrechte. Bürgerrechte. Selbst ein Unstaat wie dieser ist kein rechtsfreier Raum. Und als MUTTER habe ich das Recht, mein Baby zu sehen. Mein Fleisch und Blut. Meinen Sohn.
    Aber Ihr Sohn ist tot.
    OH NEIN. Das geht nicht. Das können Sie nicht machen. NICHT MIT MIR!
    Die Schwester hatte ihr in die Augen gesehen, ganz kurz nur. Dann hatte sie hinter sich geblickt, als erhoffe sie sich Instruktionen von der Wand, die dem Bett gegenüber lag. Eine ohne Kacheln, dieses Mal. Kein Riss mehr in der Fassade. Stattdessen reinweiße Einheitlichkeit.
    Glauben Sie mir, es ist besser so.
    Da hat sie losgeschrien. Hat diesem Monster von einer Pflegerin all ihre Angst und Hilflosigkeit und Wut mitten in ihr teigiges Gesicht gebrüllt.
    Und nun ist sie hier.
    Hier, das sind schätzungsweise zweieinhalb mal zweieinhalb Meter mit einer quietschsterilen Polyesterdecke auf der schmalen Pritsche und seltsamen grauen Polstern an den Wänden. Jemand (Wer war das noch gleich?) hat ihr gesagt, es sei alles ein bisschen zu viel für sie gewesen. Die Anstrengungen der Geburt. Dazu ihr Nervenkostüm, das ja ohnehin nicht das Beste sei (Wie kommen die eigentlich auf eine derart absurde Idee?). Der Schock über den schlechten Ausgang (Was für eine perverse Art, das, was ihrem Jungen geschehen ist, geschehen sein muss, in Worte zu fassen!). Jedenfalls müsse man sie jetzt erst einmal eine Weile vor sich selbst beschützen. So lange, bis sie das wieder allein könne. Man werde sie auf dem Weg ihrer Genesung selbstverständlich nach Kräften unterstützen. Dazu ein Lächeln, ebenso distanziert wie blutleer. Dann eine Nadel (Woher kam die so schnell?), die

Weitere Kostenlose Bücher