Schattenriss
sich in ihren Arm bohrt. Und wieder Dunkelheit.
Und Stille.
Und Vergessen.
Manchmal, wenn sie klar ist, fragt sie sich, was sie eigentlich erwartet hat. Was das schlimmste Szenario gewesen ist, das sie sich im Vorfeld ausgemalt hat. Verhöre natürlich, immer nachts und immer in einem Raum mit einer nackten Glühbirne, die an einem fleckigen Kabel von der Decke baumelt. Dazu Schlafentzug. Ein Wärter in grauer Uniform, der mit einer Eisenstange gegen die Heizung hämmert und ihr irgendwelche absurden Parolen ins Ohr brüllt, sobald sie eingenickt ist.
Aber sie haben sie nicht verhört.
Nicht ein einziges Mal.
Sie stellen keine Fragen. Sie verlangen keine Antworten.
Und sie lassen sie schlafen, jede Nacht mindestens sieben Stunden lang.
Alles, was sie getan haben, ist, sie hierher zu bringen, wo man sie, na ja, zugegeben, nicht gerade gut, aber auch nicht besonders schlecht behandelt. Das irritiert sie. Und genau diese Irritation ist vielleicht das Schlimmste an ihrer Lage. Auf die Verhöre war sie vorbereitet. Sie hatte sich Antworten auf alle nur denkbaren Fragen zurechtgelegt. Sie hatte einen Haufen Paragraphen auswendig gelernt, die sie ihren Anschuldigungen entgegenschleudern wollte. Eine Zeitlang hatte sie sogar trainiert, ausschließlich in kurzen Intervallen zu schlafen und das Schrillen ihres Weckers alle fünfzehn Minuten auszuhalten.
Nur, dass man sie in Ruhe lässt ...
Damit hat sie nicht gerechnet.
Und das macht sie wahnsinnig – paradoxerweise genau das, was sie von ihr behaupten. Das ist perfide, denkt sie manchmal, wenn sie wach ist. Aber sie hat auch keine Ahnung, was sie dagegen unternehmen soll. Dich abfinden , flüstert eine Stimme tief in ihr, und je länger sie hier ist, desto mehr ist sie geneigt, dieser Stimme nachzugeben. Doch dann denkt sie wieder an ihren Sohn und schreit, und wenn es gar zu arg wird, kommen sie mit einer neuen Spritze, und sie sinkt wieder zurück in die Dunkelheit.
Das Begräbnis ist denkbar schlicht gewesen, um nicht zu sagen: herzlos. Aber das hat ihr nichts ausgemacht. Zu genau hat sie gewusst, dass es nicht ihr Sohn ist, den man an diesem eisigen Januarmorgen auf dem Magdeburger Zentralfriedhof zu Grabe trägt. Ein Kindersarg, gefüllt mit Zeitungen. Nichts weiter. Eigenartigerweise sieht sie den Sarg trotzdem manchmal im Traum, und dann fragt sie sich, was für Zeitungen sie genommen haben mögen, um der leeren Holzkiste ein glaubhaftes Gewicht zu verleihen. Sie stellt sich das Titelblatt der Magdeburger Volksstimme vor, mit einem Bericht über die Stadtmeisterschaft im Halbmittelgewicht als Aufmacher. Das körnige Schwarzweißfoto, das den Artikel begleitet, zeigt einen ramponierten Boxer, der einen breiten Goldgurt um den schweißglänzenden Körper trägt. Das Foto schlägt Wellen in der klammen Feuchtigkeit des Kindergrabes, und sie sieht blanke, schwarze Käfer, die gierig den Goldgurt vertilgen, bevor die schwere Erde der Magdeburger Börde die Aufnahme mitsamt den übrigen Zeitungen und dem billigen Kiefernholzsarg und dem hellblauen Strampelanzug in einen Klumpen zähen schwarzen Matsches verwandelt.
Davon träumt sie.
Sie träumt überhaupt sehr viel, seit sie hier ist.
Dabei will sie gar nicht träumen. Sie weiß, träumen ist gefährlich. Aber sie hat auch keine Ahnung, wie sie das Träumen verhindern soll. Sie achten penibel darauf, dass sie ihre Medikamente nimmt. Keine Chance, irgendwelche Tabletten unter der Zunge verschwinden zu lassen, um sie später diskret in eine Toilette zu entsorgen. Was die Pflegerin ihr reicht, sind immer Tropfen. Bittere Medizin im wahrsten Sinne des Wortes, weil der real existierende Sozialismus sich nicht die Mühe macht, das Aroma des Vergessens unter gnädigem Menthol- oder gar Zitronengeschmack zu verstecken. Die Bitterkeit brennt ihr die Kehle hinunter, und manchmal muss sie schon würgen, kaum dass der kleine Plastikbecher ihre Lippen berührt. Dabei ist ihr daran gelegen, möglichst lange Wachphasen zu haben. Und das geht nur, wenn man sich unauffällig verhält. Tut, was sie sagen. Kommentarlos Kulturbeutel aus braunbeigem Plastik näht. Isst, was immer sie einem vorsetzen.
Aber je seltener die Spritzen kommen, desto mehr Zeit hat sie, darüber nachzudenken, was sie tun wird, wenn sie hier rauskommt. Dann malt sie sich aus, wie sie sich auf die Suche machen wird nach ihrem Jungen, der vielleicht sogar schon ein klein bisschen Dreirad fahren kann. Wie sie nicht lockerlassen wird, bis sie ihn endlich in
Weitere Kostenlose Bücher