Schattenriss
blickte er in ihre Richtung!
Vor lauter Schreck hatte Winnie Heller das Gefühl, ihr Herzschlag setze aus. Hatte er sie vielleicht doch gesehen? Wie tief war das Dunkel, das sie umgab? Reichte die Finsternis aus, um sie vor ihm zu verbergen?
Instinktiv spannte sie die Muskeln an und machte sich darauf gefasst, sich zu Boden zu werfen. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er seine Waffe ziehen und schießen würde, sobald er sich sicher war. Und so, wie er stand, hatte sie nicht die geringste Chance, an ihm vorbei zu kommen, um vielleicht die mittlere Tür zu erreichen.
Also still sein und hoffen.
Dass sie sich getäuscht hatte.
Dass er zu dem Schluss kam, sich getäuscht zu haben. Was auch immer ...
Winnie Heller hörte ein Knirschen und setzte bereits zu einem Hechtsprung an. Doch dann bemerkte sie voller Erleichterung, dass der Geiselnehmer sich abgewandt hatte und direkt auf das erleuchtete Viereck des Türrahmens zuging.
Ja, du verdammter Mistkerl, so ist’s gut! Verschwinde endlich, na los doch, hau ab, du Drecksack!
Als er die Tür erreicht hatte, blickte er ein letztes Mal über seine Schulter zurück. Und wieder sah er dabei genau in ihre Richtung. Die hellen Augen des Mannes leuchteten Winnie Heller quer durch die Dunkelheit entgegen, und dieses Mal, das hätte sie schwören können, blinzelte er ihr zu …
5
»Lieson tobt wie ein Stier«, verkündete Goldstein, indem er sein Handy in die Halterung an seinem Gürtel zurückschob und den Sicherheitsgurt wieder anlegte, den er zwischenzeitlich gelöst hatte, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben.
Verhoeven starrte auf das Rot der Ampel vor sich. »Weil er nicht nach Hause darf?«
»Statt froh zu sein, dass wir ihn nicht geradewegs ins Messer laufen lassen, zieht dieser Idiot es vor, sich in seiner so genannten Freiheit beschnitten zu fühlen«, brummte Goldstein anstelle einer Antwort. »Bleibt nur zu hoffen, dass er keinen Unsinn macht. Und dass nichts durchsickert.«
Sie waren auf dem Weg zum Privathaus des Bankers, von wo aus Monika Zierau sie beständig auf dem Laufenden hielt.
Inger Lieson hatte angegeben, sich bereits seit geraumer Zeit beobachtet zu fühlen. Wann es begonnen hatte und woran genau sie diesen Eindruck festmachte, hatte sie hingegen nicht sagen können. Es sei nichts weiter als ein Gefühl gewesen, hatte sie wieder und wieder beinahe entschuldigend beteuert. Ein vager, durch nichts zu belegender Instinkt, der genauso gut falsch sein konnte.
Verhoeven schaltete in den ersten Gang und dachte, dass Gefühle wie diese vermutlich selten ohne triftigen Grund entstanden. Und dass die Ereignisse der letzten Stunden Inger Liesons Instinkten recht gegeben hatten.
Er schielte kurz zu Goldstein hinüber, der jedoch tief in Gedanken versunken schien. Aber der erfahrene Unterhändler sah nicht friedlich aus. Im Gegenteil. Die tiefen Schatten, die auf seinen ausdrucksvollen Zügen lagen, veranlassten Verhoeven, ein Gespräch zu beginnen. Schon um Richard Goldstein von der Last seiner Gedanken zu erlösen.
»Sagen Sie«, bemühte er das erstbeste Thema, das ihm auf die Schnelle einfiel, »ist Ihre Mütze eigentlich wirklich eine Art Glücksbringer?«
Goldstein schmunzelte. Ein seltsam wehmütiges Schmunzeln. »Nein«, sagte er nach einer Weile, und es klang, als müsse er sich selbst erst darüber klar werden, was er dachte. »Ich würde nicht sagen, dass sie ein Glücksbringer ist.«
»Sondern?«
Verhoeven rechnete fast damit, dass der Unterhändler die Antwort auf diese Frage verweigern würde. Aber er täuschte sich.
»Ich denke, sie ist eine Warnung.«
»Eine Warnung wovor?«, fragte Verhoeven, den die Sache allmählich zu interessieren begann. »Vor schießwütigen Irren?«
Goldstein nahm das Basecap ab und drehte es nachdenklich in den Händen hin und her, während er mit unbewegter Miene aus dem Seitenfenster blickte. »Dieses Ding erinnert mich an die allgegenwärtige Möglichkeit des Scheiterns.«
Er ist hier, weil man sagt, dass er seinen Job versteht, flüsterte Werner Brennicke in Verhoevens Kopf. Und von ein paar Ausrutschern einmal abgesehen, mag das auch durchaus zutreffen.
Es mag zutreffen, wiederholte Verhoeven in Gedanken. Von jemandes Qualität überzeugt zu sein klingt irgendwie anders. Laut sagte er: »Ist es denn sinnvoll, sich an die Gefahr des Scheiterns zu erinnern, wenn man tun muss, was Sie tun müssen?«
Und auf einmal wandte Goldstein doch den Kopf. Verhoeven konnte den Adlerblick des
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