Schattenriss
geflüchtet hatte. Dass der Name hierzulande nicht besonders gebräuchlich ist, kannst du dir vermutlich denken. Allerdings war er in den Achtzigerjahren des vorletzten Jahrhunderts mal eine Zeitlang recht populär, was in erster Linie einem Roman von Felix Dahn geschuldet ist, der sich damals großer Beliebtheit erfreute. Und der heißt ...« Luttmann stutzte und musste offenbar nachschauen. »Das Buch heißt Kampf um Rom und behandelt den schicksalhaften Niedergang des Ostgotenreiches.«
»Was halten Sie davon?«, fragte Goldstein, an Verhoeven gewandt.
»Einen derart abseitigen Namen wählt man kaum aus Zufall.« Der Unterhändler nickte. »So sehe ich das auch.«
»Vielleicht heißt dieser Kerl ja tatsächlich so«, gab Luttmann, der zugehört hatte, zu bedenken.
Doch Goldstein winkte ab. »Halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, murmelte er laut genug, dass Luttmann ihn hören konnte. »Trotzdem wird er natürlich einen triftigen Grund haben, sich ausgerechnet so zu nennen. Und genau dieser Grund ist es, der uns zu interessieren hat.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch die raspelkurzen Haare und setzte anschließend sein Basecap wieder auf. Ein wenig schief, wie Verhoeven aus den Augenwinkeln registrierte. Dann sah er wieder zum Seitenfenster hinaus. »Meiner Erfahrung nach beruht das Wenigste, was Menschen tun, auf Zufällen und Willkürlichkeiten«, sagte er wie zu sich selbst. »Und gottlob verhält sich dergleichen auch bei Verbrechern nicht anders.« Er schob die Unterlippe vor und tastete nach seinen Zigaretten, bevor er weitersprach: »Nehmen Sie zum Beispiel diesen Serienmörder, der seit Jahr und Tag oben in Norddeutschland sein Unwesen treibt und kleine Jungen tötet.«
Verhoeven nickte kurz, um zu signalisieren, dass er wusste, wovon die Rede war.
»Der Kerl holt sich einen Jungen aus einem Schullandheim in der Nähe von Hannover, und anschließend legt er dessen Leiche in Dänemark ab«, fuhr Goldstein fort. »Das mag auf den ersten Blick willkürlich aussehen, aber natürlich geschieht es aus einem ganz bestimmten Grund ... Dass die ermittelnden Kollegen diesen Grund nicht – oder noch nicht – kennen, bedeutet jedoch nicht, dass es ihn nicht gibt.« Er seufzte. »Was ich sagen will, ist, dass unser Täter von Hannover aus Dutzende und Aberdutzende von Möglichkeiten hätte, ein paar hundert Kilometer weit zu fahren. Nordwärts, südwärts, westwärts, ostwärts. Links oder rechts, Autobahn oder Landstraße und so weiter und so fort. Und aus all diesen Möglichkeiten wählt er eine ganz bestimmte Strecke, um mit dem Kind an einen ganz bestimmten Ort zu gelangen.« Sein Blick wurde unscharf. »Damit allerdings hat er denen, die ihn jagen, etwas über sich verraten. Und je mehr dieser Dreckskerl von einem Kinderschänder über sich verrät, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie ihn erwischen.« Er zog die Schachtel mit seinen Zigaretten, die sich bereits deutlich verschlankt hatte, aus der Hosentasche und hielt sie fragend in die Höhe.
Verhoeven war nicht gerade glücklich darüber, dass der Unterhändler in seinem Privatauto rauchen wollte, aber er nickte und schob die Abdeckung des Aschenbechers zurück.
»Und wer weiß...« Goldstein setzte die Zigarette in Brand, und auf seinem Gesicht erschien unvermittelt ein neuer Ausdruck. Der Ausdruck von Zufriedenheit, wie Verhoeven verwundert feststellte, mit einem Hauch jener Arroganz, von der der studierte Soziologe zuvor selbst gesprochen hatte.
»Wer weiß ... was?«, hakte er nach, als er merkte, dass Goldstein nicht von sich aus weitersprechen würde.
»Ich bin nicht sicher«, sagte der Unterhändler leise. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass unser Freund aus der Bank sich eines Tages noch wünschen wird, er hätte sich uns als Paul oder Henry vorgestellt.«
Eines Tages, echote Verhoeven sarkastisch. Und mit jeder Stunde, die vergeht, verschärft sich die Situation der Geiseln. Die Entführer werden nervöser. Die Nerven liegen blank. Und irgendwann geschieht etwas, das das Fass zum Überlaufen bringt.
6
Warum hat dieser Bernd mich nicht verpfiffen? Habe ich mir sein Zwinkern am Ende vielleicht doch nur eingebildet? Warum lebe ich noch? Und was, zur Hölle, hat dieses elende Arschloch vor?
Es waren Fragen wie diese, die Winnie Heller durch den Sinn gingen, als sie mit zittrigen Knien die Stufen der Eisentreppe hinunterstieg, wo sie von ihren Mitgefangenen bereits erwartet wurde.
»Und?«, fragte
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