Schattenriss
... Ich wünschte, ich wüsste es. (Ich wünschte, er stünde auf einmal vor meiner Tür und nähme mich einfach mit. Nach Frankreich, Spanien, Portugal oder na ja, mal sehen.) Aber ... Verzeihen Sie, wenn ich das frage: Was hat das alles mit dieser ... Sache in der Bank zu tun?
Wissen Sie es?
Ich? Warum ich?
Na gut, dann wiederholen Sie doch bitte noch einmal, was der Mann gesagt hat. So wörtlich wie möglich!
Inger stützte sich mit den Händen auf der Fensterbank ab. Warum ich?, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Warum ausgerechnet ich? Wieso kann man mich nicht einfach in Ruhe lassen?
»Na gut«, hatte die Psychologin gesagt. Eben. Vorhin. Jedenfalls bevor sie hier heraufgekommen war. »Von meiner Seite spricht nichts dagegen, wenn Sie sich eine halbe Stunde hinlegen. Aber bleiben Sie bitte unbedingt im Haus.« Und weiter: »Schließlich wissen wir nicht, wo diese Männer stecken. Vielleicht sind sie noch in der Nähe.«
Inger starrte die nächstgelegene Straßenlaterne an, während sich der Gedanke langsam, aber sicher auswuchs.
Der Mann, der mich angerufen hat, könnte irgendwo dort unten stehen, im Schatten einer Mauer oder Hecke. Vielleicht blickt er gerade jetzt, in diesem Augenblick, herauf zu mir. Vielleicht wartet er nur darauf, dass ich mich in eine bestimmte Richtung drehe. Vielleicht befindet sich mein Kopf bereits jetzt, in dieser Sekunde, im Fadenkreuz seiner Waffe. Schließlich gebe ich ein tolles Ziel ab, so ganz allein hier am Fenster, mitten im hellsten Licht. Ein leichtes, weithin sichtbares Ziel ...
Inger trat einen Schritt zurück und ließ die Jalousien herab. Der Mann, der mich angerufen hat, befindet sich vielleicht ganz in meiner Nähe. Aber wieso? Was weiß er von mir? Was, um Himmels willen, habe ich mit diesen Leuten zu tun? Mit Bankräubern, ausgerechnet ich? Und wie viel weiß Walther über all das? Ingers Blick streifte eine Fotografie ihres Mannes, die auf dem Nachtschrank neben dem Bett stand. Neben seinem Bett, wohlgemerkt, nicht neben ihrem. Die Aufnahme zeigte Walther auf den Stufen der spanischen Treppe in Rom, und obwohl das Bild während eines Privaturlaubs aufgenommen worden war, war er elegant, fast förmlich gekleidet. Beige Hose, passendes Sakko, dazu ein blütenweißes Hemd, das die Dunkelheit seines Teints unterstrich und seine markanten Züge wirkungsvoll zur Geltung brachte.
Fünf Jahre ist das jetzt schon wieder her, dachte Inger verwundert, und er sieht noch immer ganz genauso aus wie damals. Genauso durchtrainiert. Und genauso kraftvoll. Früher hatte sie sich über diese Dinge keine allzu großen Gedanken gemacht, aber in der letzten Zeit fragte sie sich immer öfter, wie jemand, der einundsechzig Jahre alt war, vierzehn Stunden pro Tag arbeitete und als Ausgleich für diese Plackerei nichts als Schach spielte und Kreuzworträtsel löste, derart fit und lebendig wirken konnte.
Was ist mit Ihrem Mann?
Was meinen Sie? Was soll mit ihm sein?
Wissen Sie etwas über Probleme, die er hat?
Walther?! Nein. Keine Probleme.
Und seine Exfrau? Oder andere Leute, mit denen Ihr Mann vielleicht noch eine Rechnung offen hat?
Inger setzte sich auf die Bettkante und sah das Telefon an, das neben der Rom-Fotografie stand. Den Nebenanschluss. Sie wusste nichts über Walthers Vorgeschichte, und sie hatte auch nie etwas darüber wissen wollen. Schon allein deshalb, weil sie zutiefst davon überzeugt war, dass man die Vergangenheit grundsätzlich besser ruhen ließ. Wenn du dreimal fragst, hörst du viermal etwas, das du nicht wissen willst , hatte ihre Mutter früher immer behauptet. Und ihre Mutter hatte es wirklich wissen müssen!
Seltsamerweise musste Inger auch jetzt wieder an Sven denken. An seine warme, humorvolle Art und daran, dass er ein Mann gewesen war, den sie sich immer gut »in alt« hatte vorstellen können. Ganz im Gegensatz zu Walther. Und das, obwohl Sven noch nicht einmal halb so alt gewesen war, als er sie verlassen hatte. Aber was bin eigentlich ich?, überlegte sie, während ihre Finger einen losen Faden aus dem Saum ihres Pullovers zupften. Ich würde mich selbst schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr als jung bezeichnen. Aber wenn nicht einmal Walther alt ist ... Was bin dann ich?
Was, um Gottes willen, bin ich?
Inger legte den Faden auf dem Nachtschrank ab und strich den Saum glatt. Dass es einen derart langen Zeitraum geben sollte, in dem man nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt war, irritierte sie. Und sie fragte sich, ob sie
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