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Schattenriss

Schattenriss

Titel: Schattenriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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dem Nachtschrank fiel, begriff sie. »Es war nichts. Es ist nur ... Mir ist etwas heruntergefallen.«
    »Jetzt?«
    Eine Welt von Unverständnis in einem einzigen Wort.
    Was meinst du mit heruntergefallen? Wie kann so etwas überhaupt passieren, ausgerechnet jetzt, wo ich mit dir telefoniere? Wo ich dir von meiner Wut und diesen alptraumhaften letzten Stunden und allem anderen erzählen will? Verrate mir, wie dir ausgerechnet jetzt etwas herunterfallen kann!
    Inger ließ das Telefon sinken. Sie hörte Walther sprechen, und was er sagte, klang noch wütender als zuvor. Aber sie verstand kein Wort. Eigentlich bezeichnend, dachte sie, indem sie sich langsam nach vorn beugte.
    Ein Geräusch hinter ihr ließ sie abrupt innehalten. Sie fühlte einen Luftzug, dann eine Berührung an ihrer Schulter.
    »Passen Sie auf, sonst verletzen Sie sich noch daran.«
    Inger merkte, wie ihr Kopf hochruckte. Steh auf , versuchte sie sich selbst zur Ordnung zu rufen . Tu etwas! Hilf ihr!
    Doch die Psychologin, die sie befragt hatte, war bereits dabei, die Scherben des zerborstenen Fotorahmens mit dem Fuß beiseitezuschieben.
    Inger versuchte aufzustehen, aber sie konnte ihre Beine nicht fühlen. Genau wie der Rest von ihr schienen sie tot zu sein. Gefühllos. Abgestorben. Sie entdeckte das Gesicht ihres Mannes, seltsam gebrochen unter einem Haufen funkelnder Glassplitter. Und sie registrierte auch den Riss, der sich quer über die spanische Treppe zog und davon herrührte, dass die Psychologin nicht gerade behutsam zu Werke gegangen war.
    Überhaupt schien sie ziemlich wütend zu sein, auch wenn Inger sich beim besten Willen nicht erklären konnte, weswegen. Sie hörte das Knirschen der Scherben unter den Sohlen der Psychologin, während sich langsam, aber sicher ein Schleier gnädiger Unschärfe über ihre Umgebung legte.
    Das Letzte, was sie mitbekam, war, dass jemand ihr das Telefon aus der Hand nahm.
     
     
     

9
     
    Sie hatten mit Inger Lieson gesprochen, Fakten zusammengetragen und Möglichkeiten erörtert. Irgendwann hatten sie beschlossen, dass sie an diesem Abend nicht viel mehr würden erreichen können, und hatten sich getrennt. Verhoeven hatte zuerst noch eine Weile im Auto gesessen, um wenigstens ein paar Minuten aufzuschieben, was er jetzt zu tun hatte. Aber irgendwann war er zu der Erkenntnis gelangt, dass es das Beste wäre, es hinter sich zu bringen. Nichtsdestotrotz hatte er das dringende Gefühl, einen Verrat zu begehen, als er die Tür zu Winnie Hellers Apartment aufschloss. Zu klar war ihm, dass sie ihn niemals von sich aus in ihre eigenen vier Wände eingeladen hätte. Und auch, dass sie es hassen würde, wenn sie wüsste, was er hier tat.
    Er beschloss, tatsächlich nur zu erledigen, weswegen er gekommen war, und verzichtete sogar darauf, das Licht einzuschalten. Trotzdem kam er sich wie ein Einbrecher vor, als er auf das riesige Aquarium zuging, das auf einem Podest mitten im Raum stand.
    In dem komfortablen Unterschrank unter dem Becken fand er eine Dose mit Fischfutter, doch das bläuliche Licht, das das beleuchtete Wasser verströmte, reichte nicht aus, um das Kleingedruckte auf der Rückseite zu entziffern. Verhoeven drehte die Dose in alle Richtungen und verrenkte sich fast den Hals, doch es wurde nicht besser. Und er wollte es auf keinen Fall riskieren, Fehler im Hinblick auf die Dosierung zu machen und am Ende vielleicht gar die Schuld am Tod von Winnie Hellers schuppigen Hausgenossen zu tragen. Also kehrte er zur Wohnungstür zurück und schaltete das Licht ein.
    Als Verhoeven sich wieder umdrehte, bemühte er sich nach Kräften, nirgendwo genauer hinzusehen. Aber er konnte nicht verhindern, dass er einen Eindruck gewann.
    Ein Provisorium, dachte er kopfschüttelnd. Die Frau, mit der ich Tag für Tag aufs Engste zusammenarbeite, lebt in einer Art Wartesaal!
    Zu seiner eigenen Verwunderung überraschte ihn diese Tatsache in keiner Weise. Er hatte sich nie bewusst Gedanken über Winnie Hellers häusliches Umfeld gemacht, so weit wäre er nie gegangen. Aber das, was er hier sah, schien – so seltsam das klang – irgendwie zu ihr zu passen.
    Verhoeven legte Werneuchens Zierfischratgeber auf die Abdeckung des Aquariums und betrachtete die wuchtige Arbeitstheke, die die Sperrholz-Einbauküche vom Rest des Raumes trennte. Die Einrichtung des Apartments war tatsächlich mehr als einfach, um nicht zu sagen spartanisch. Es gab eine Reihe von Sperrholzregalen und ein klappriges Schrankbett neben einer Tür, die

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