Schattenriss
überhaupt jemals wieder ein Alter erreichen würde, in dem sie ein klares Selbstgefühl hatte. Die Frauenzeitschriften, die sie bis vor ein paar Jahren gelesen hatte, hatten immer behauptet, dass alles einfacher wurde, wenn man erst einmal die magische Dreißig überschritten hatte. Mit dreißig habe man endlich seinen Platz im Leben gefunden, hatte irgendeine kluge Journalistin dort geschrieben. Man kannte sich und seinen Körper gut genug, um zu wissen, was man wollte und was man besser bleiben ließ. Kurzum: man war angekommen.
Inger rückte die Fotografie ihres Mannes ein Stück von sich weg. So weit, so gut. Bloß dass sie inzwischen fast vierzig war, und irgendwie wurde alles immer komplizierter. War das nicht eigentlich zum Lachen?
Das Schrillen des Telefons riss sie abrupt aus ihren Überlegungen. Doch zu ihrer eigenen Verwunderung blieb sie relativ gelassen. Vielleicht, weil dieser Teja ihr gesagt hatte, dass er erst morgen wieder anrufen würde. Vielleicht auch, weil ihr das Ganze allmählich seltsam irreal vorkam. Wie ein Traum, aus dem sie eigentlich nur zu erwachen brauchte ...
»Ja?«
»Gott sei Dank, dass ich dich gleich dran hab.«
»Walther?«, fragte sie, vollkommen verdutzt. Immerhin hatte man ihr doch erklärt, ihr Mann befinde sich an einem sicheren Ort und werde bis auf weiteres sozusagen unter Verschluss gehalten.
»Hör zu«, fuhr er mit der ihm eigenen vitalen Entschlossenheit fort, »du musst unbedingt sofort bei Karl anrufen, hörst du? Seine Privatnummer steht auf der Visitenkarte von der Kanzlei. Er soll sich umgehend mit dem zuständigen Staatssekretär in Verbindung setzen und dafür sorgen, dass ich hier rauskomme, verstanden?«
Inger hielt sich schützend die freie Hand vor die Stirn, die sich mit einem Mal heiß anfühlte. Den Verstand verlieren. Durchdrehen. Verschwinden . »Wie geht es dir? Wo bist du?«, bemühte sie sich, eine kurze Atempause ihres Mannes zur Klärung zweier wichtiger Fragen zu nutzen, doch Walther war zu sehr in Fahrt, als dass er auch nur mit einer Silbe darauf eingegangen wäre.
»Da verlangen ein paar durchgeknallte Irre zwei Millionen Euro«, echauffierte er sich, »und diese verdammten Idioten haben nichts Besseres zu tun, als anzunehmen, dass das irgendwas mit mir zu tun hat. Mit mir ganz persönlich!«
Inger hatte keine Ahnung, was sie darauf sagen sollte, also schwieg sie.
»Diese verdammten Scheißkerle verlangen zwei Millionen«, wiederholte ihr Mann am anderen Ende der Leitung in ungebremster Wut. »So viel habe ich selbst, falls es diesen Armleuchtern entgangen sein sollte. Ich ganz privat.«
Ja, dachte sie. Ungefähr ...
»Zwei Millionen!« Walther Lieson stieß ein Lachen aus, das in den Ohren seiner Frau ebenso verächtlich wie ungläubig klang. »Das sind doch Peanuts. Als ob jemand wie ich für eine derart lächerliche Summe seinen Arsch riskieren würde! Aber in Zeiten wie diesen genügt es anscheinend, bei einer Bank beschäftigt zu sein, um unter Generalverdacht zu geraten.« Ihr Mann schnappte nach Luft. »Du hättest mal sehen sollen, was die für einen Aufwand betrieben haben, um mich fünf Minuten früher nach Wiesbaden zu schaffen. Die haben glatt einen ICE angehalten. Auf offener Strecke.« Inger konnte das entrüstete Kopfschütteln ihres Mannes förmlich vor sich sehen. »Hast du eine Ahnung, was so eine Aktion kostet?«
Das, dachte sie mit einem Anflug von Ekel, ist dein Verständnis der Welt. Du bemisst alles und jedes in Zahlen.
Sie sah die Fotografie ihres Mannes an. Das glatte, dunkle Gesicht. Die ebenmäßigen Züge, die bei aller Attraktivität auch eine gewisse Härte zeigten. Fünfzehn Schwangerschaften , hatte Walther irgendwann einmal zu ihr gesagt, als sie im Fernsehen eine Diskussion über neue Denkansätze in der Evolutionslehre gesehen hatten. Die Natur hat eine Frau für fünfzehn Schwangerschaften ausgerüstet, damit sie zehn Kinder zur Welt bringt, von denen fünf überleben.
Oh ja, dachte Inger bitter, in der Welt meines Mannes ist alles eine Frage von Zahlen.
Zwei Millionen Euro, fünfzehn Schwangerschaften ... »Inger!«
Walthers Stimme hörte sich an, als komme sie geradewegs aus einer anderen Welt. Einer, von der sie sich mit jeder Sekunde weiter entfernte. »Ja?«
»Was ist denn da los bei dir?«
»Was meinst du?«
»Dieses Poltern ...«
»Das ...« Inger blickte sich irritiert um, weil sie sich zuerst gar nicht erklären konnte, wovon ihr Mann sprach. Erst als ihr Blick auf den Boden vor
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