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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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entschuldigen. Aber vorher will ich verstehen, was passiert ist.»
    Er wartete.
    Steenhoff verschränkte seine Arme vor der Brust und stützte sie auf dem Schreibtisch ab. Unverwandt sah er Andrea Voss an, die nach wie vor schwieg.
    Wessel saß auf seinem Stuhl, als hätte er einen Stock verschluckt. Minuten verstrichen. Keiner sagte ein Wort.
    Der Stoff von dem geliehenen Hemd kratzte Steenhoff am Rücken. Doch er blieb ohne Regung sitzen und konzentrierte sich auf die Frau mit den strubbeligen, kurzen Haaren. Er wusste, dass er im Vorteil war. Schweigen konnte nicht jeder. Und daher war es eine wichtige Waffe in einer Vernehmung. Zigfach hatte er sie in den vergangenen Jahren benutzt. Andrea Voss dagegen musste als Journalistin ständig reden und mit Worten Brücken zu Menschen bauen, um sie für ein Gespräch zu gewinnen oder eine Antwort aus ihnen herauszukitzeln. Er spürte, wie es hinter ihrer kühlen Fassade arbeitete.
    «Eine Entschuldigung ist nicht genug», brach sie schließlich das Schweigen. Sie wandte den Blick weg von dem Phantombild, das an der Pinnwand hinter Steenhoff hing, und sah ihn herausfordernd an.
    «Sondern?»
    «Ich will einen gesicherten Aufenthalt für Farid und seinen Bruder in Deutschland.»
    Wessel schüttelte empört den Kopf.
    Auch Steenhoff hätte die Journalistin am liebsten darauf hingewiesen, dass sie sich nicht auf einem arabischen Basar befänden, aber er verkniff sich die Bemerkung. Stattdessen sagte er ruhig: «Ich würde dich anlügen, wenn ich dir das zusagen würde. Du weißt genauso gut wie ich, Andrea, dass ich so etwas nicht entscheiden kann.»
    Die Gesichtszüge der Journalistin verhärteten sich.
    «Aber ich verspreche dir», fuhr Steenhoff fort, «wenn ich nach Farids Vernehmung tatsächlich von seiner Unschuld überzeugt bin und auch sein Bruder nichts auf dem Kerbholz hat, dann setze ich mich für sie mit aller Kraft bei den entscheidenden Stellen ein.»
    Andrea Voss überlegte.
    «Mit aller Kraft?», wiederholte sie schließlich und fixierte Steenhoff.
    «Mit aller Kraft», bestätigte Steenhoff ernst.
    Sie fuhr sich mit ihrer rechten Hand durchs Haar. Dann sagte sie mit feierlichem Unterton: «Okay. Ich habe dein Wort. Also, was willst du wissen?»
    Steenhoff unterdrückte einen Seufzer und begann mit der Vernehmung.
    «Warum fährt Farid mit dir und Motjaba ausgerechnet an diesen abgelegenen Ort, um zu reden?»
    Im Hintergrund war das leise Klacken der Tastatur zu hören, die Wessel mit zehn Fingern bearbeitete.
    Andrea Voss atmete schwer aus. Angespannt knetete sie ihre Hände.
    Steenhoff hatte ursprünglich anders mit der Vernehmung beginnen wollen, doch ihr plötzliches Einlenken hatte ihn kurzzeitig aus dem Konzept gebracht. Verwundert registrierte er, dass offenbar gleich die erste Frage Andrea Voss stark berührte. Sie schien mit sich zu kämpfen.
    Als sie ihn erneut ansah, meinte er einen Augenblick lang, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Aber sie hatte sich schnell wieder im Griff.
    Andrea Voss räusperte sich kräftig, bevor sie sprach. «Ich fürchte, du wirst es kaum glauben.»

[zur Inhaltsübersicht]
    27
    Ich wache morgens mit mehr Gedanken und Gefühlen auf, als jeder Tag verbrauchen kann. Schon bevor ich die Augen aufschlage, fehlst du mir. Dieser stechende Schmerz. Er wird nicht weniger.
    Ich bräuchte Zeit und Ruhe, hatten sie in Kabul gesagt. Sie wollten mich nach Deutschland zurückschicken. Abstand kriegen. Ich habe nachgegeben und mich ins Flugzeug gesetzt. Was sollte ich auch ohne dich in Afghanistan? Den Stick mit den letzten Fotos von dir trage ich immer bei mir.
    Sie sagen, es war ein Selbstmord, der Vorfall vor einigen Monaten auf der Autobahn in Bremen. Tragisch, ja. Aber eben nur einer von vielen Suiziden, die es Woche für Woche in jeder Großstadt gibt. Ich solle es nicht an mich heranlassen, sagen sie. Niemand versteht, dass es ein Zeichen war. Wie oft hatte ich mich zuvor gefragt, warum es dich und nicht mich in Afghanistan getroffen hat? Welches Recht habe ich, weiterzuleben?
    Seit dieser Geschichte auf der Autobahn träume ich wieder jede Nacht von dir. Und ich weiß, dass ich nur weiterleben darf, um meine Aufgabe zu erfüllen.
    Meine Erinnerungen und deine Erzählungen, alles vermischt sich und wird eins. Wie ein Endlosfilm läuft unsere gemeinsame Zeit an mir vorbei. Wir haben uns die erste Begegnung so oft gegenseitig erzählt. Manchmal kann ich dein und mein Leben gar nicht mehr voneinander unterscheiden.
    Jetzt bist du

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