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Schattenschmerz

Schattenschmerz

Titel: Schattenschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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konzentrierte sich auf den Fremden vor ihr, der etwas in einer Sprache schrie, die Navideh an ihre Kindheit im Iran erinnerte. Aber sie hörte nicht hin. Sie musste schwimmen. So schnell wie noch nie zuvor.
    Ihre Arme und Beine fühlten sich in dem kalten Wasser an, als würden sie jede Minute absterben.
    ‹Jetzt nur keinen Krampf kriegen!›, dachte sie panisch.
    Die vollgesogene Hose und der dicke Pullover schienen sie in die Tiefe ziehen zu wollen. Da sah sie direkt vor sich den Mann, der in Panik Halt suchte, wo es keinen gab. Zweimal ging er unter und schoss Sekunden später nach Luft schnappend wieder hoch.
    Sie beschleunigte ihr Tempo.
    ‹Ich muss es schaffen. Ich muss! Ich muss!›, hämmerte es in ihrem Kopf.
    Zwei Schwimmzüge noch. Wieder ging der Mann unter.
    Navideh holte tief Luft und tauchte unter. Sie sah nichts, sondern ließ ihre Arme blindlings durch das Wasser pflügen. Die Kälte schien ihre Brust einzudrücken, aber sie schenkte dem Schmerz keine Beachtung. Gerade als sie wieder auftauchen wollte, fühlten ihre Hände etwas Weiches. Mit aller Kraft griff sie zu.
    Als sie den Mann zurück an die Oberfläche stieß, japste er nach Luft. Navideh versuchte, hinter ihn zu schwimmen, seinen Oberkörper zu umfassen und das Kinn hochzudrücken. So, wie sie es damals gelernt hatte. Aber der vor Angst halb Wahnsinnige hielt sich an ihren Schultern fest und drückte sie unter Wasser. Es war eine eiserne Umklammerung, aus der es kein Entrinnen gab.
    Alles in Navideh drängte nach oben. An die Luft. Sie wollte endlich wieder tief durchatmen. Hoch, bloß hoch!
    Plötzlich sah sie Steffen vor sich. Der erfahrene Rettungsschwimmer hatte sie damals vor Ertrinkenden gewarnt. In ihrer Todesangst waren sie schon vielen Helfern zum Verhängnis geworden.
    Mit übermenschlicher Kraft stieß Navideh sich von dem Mann weg in die Tiefe. Sofort ließ er los und fing über ihr an, wieder mit Händen und Füßen wie wild zu strampeln.
    Ihr wurde schwarz vor Augen. Mit letzter Kraft machte sie einen kräftigen Schwimmzug und kam zwei Meter neben dem Mann an die Wasseroberfläche. Gierig sog sie die Luft ein. Ein Pfeifton schmerzte in ihrem linken Ohr. Irritiert stellte sie fest, dass es ihr eigener Atem war.
    Vor ihr schlug der Fremde um sich. Der Anblick seines verzerrten Gesichts erschreckte sie. Es war ein Junge, kein Mann, der dort direkt vor ihr um sein Leben kämpfte.
    Verzweifelt schwamm sie erneut auf ihn zu.
    Aber Navideh hatte kaum noch genug Kraft, um sich selbst über Wasser zu halten, als hinter ihr plötzlich das Wasser aufspritzte. Mit kräftigen Zügen kraulte ein Mann auf den Jungen zu, schlug ihm einmal kräftig ins Gesicht und drehte den Verdutzten im selben Moment um.
    «Schaffst du es allein zurück, Navideh?» Es war Steenhoff.
    «Ja.» Vergeblich versuchte Navideh, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. Doch die Angst fiel sie auf einmal von allen Seiten an. Jetzt, wo sie nur noch selbst zurück ans Ufer kommen musste, wurden ihre Beine und Arme von Sekunde zu Sekunde schwerer. Schon waren Steenhoff und der Junge drei Meter vor ihr. Vergeblich bemühte sie sich mitzuhalten. Was für eine Erleichterung es wäre, sich jetzt einfach fallenzulassen … Sie schluckte einen Schwall Wasser und fing an zu husten.
    «Michael, verdammt! Wo bist du? Hilf Navideh!»
    Die Heftigkeit in Steenhoffs Stimme riss sie aus ihrer Benommenheit.
    «Navideh, nur noch wenige Meter.» Wieder hörte sie seine vertraute Stimme. «Halte durch. Halt verdammt noch mal durch. Hörst du mich?»
    «Ja.» Ihre Stimme wurde schwächer.
    «Navideh, ich koch dir den besten persischen Tee der Welt, wenn du nur noch sechs lausige Schwimmzüge machst. Sechs, Navideh! Sechs! Reiß dich zusammen.» Frank Steenhoff keuchte vor Anstrengung.
    Ihm zuliebe öffnete sie mechanisch ihre Arme und versuchte, das dunkle, kalte Wasser mit den Händen wegzurücken. Doch sie war so müde. So unendlich erschöpft.
    ‹Ich muss mich ausruhen›, dachte Navideh. ‹Nur einen kurzen Moment.›
    Sie spürte ihre Arme nicht mehr. Wieder tauchte sie unter. Sekunden später schoss sie mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen nach oben.
    Sie sah noch, wie Steenhoff den Jungen in Richtung Ufer stieß und sich wieder umdrehte, um zu ihr zu schwimmen. In derselben Sekunde schien das Wasser um sie herum plötzlich aufzuschäumen.
    Mit kräftigen Kraulzügen zerteilten mehrere SEK -Männer das Wasser. Während zwei von ihnen den Jungen übernahmen, wurde Navideh gepackt

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