Schattenschmerz
sammeln.
Steenhoffs Pulsschlag ging schneller. Plötzlich war er sich ganz sicher, dass Marie sich verliebt hatte und auswandern wollte. Weit weg. Nach Neuseeland oder China, für das sie neuerdings ein unerklärliches Interesse zeigte.
«Also», begann Marie zögerlich. «Mein bisheriges Studienfach war ein Fehler.» Sie knetete nervös am Gürtel ihrer Hose. «Ich möchte noch mal wechseln und etwas ganz anderes machen.»
Steenhoff stöhnte innerlich auf und wartete voller Anspannung auf die weitere Ansage.
«Ich will Psychologie studieren.»
«In Deutschland?»
«Natürlich in Deutschland.» Marie sah ihren Vater erstaunt an. Steenhoff fiel vor Erleichterung in seinen Stuhl zurück.
Diesmal deutete Marie seine Reaktion falsch. «Ich weiß, du wirst mir jetzt dringend von dem Fach abraten und sagen, dass es nur alte Wunden aufreißt und ich dann ständig mit den Albträumen und Erlebnissen anderer Leute zu tun habe. Aber ich glaube, dass ich mich gut und leicht in andere Menschen hineinversetzen kann. Außerdem ist es das, was mich wirklich interessiert», fügte sie fast trotzig hinzu.
Um etwas Zeit zu gewinnen, stand Steenhoff auf, ging zum Ofen und stocherte in der Glut herum.
Bei dem Studium würde Marie eines Tages unweigerlich mit Gewalttaten konfrontiert werden. Und damit indirekt mit ihrem eigenen Trauma auf der Farm.
«Du denkst jetzt bestimmt, ich bin nicht stabil genug dafür», begann Marie erneut. «Oder dass ich noch mehr Abstand zu der alten Geschichte bräuchte.»
«Ja, das denke ich tatsächlich», erwiderte Steenhoff ernst.
«Das verstehe ich auch.» Sie antwortete im selben Ton wie er. «Aber ich habe damals lange Therapie gemacht. Ich lebe mit dieser Geschichte, Papa. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht dran denke.»
Er sah sie erschrocken an.
«Guck nicht so.» Sanfter fügte sie hinzu: «Es ist passiert, was passiert ist. Andere Leute müssen mit einem schweren Verkehrsunfall klarkommen oder mit sonst was.»
Steenhoff war nicht überzeugt.
«Ich …» Marie suchte nach den richtigen Worten. «Ich habe gelernt, damit zu leben. Und ich schaffe das, weil ich dich und Mama habe und weil ich zweimal in der Woche zu dieser Frau gehen konnte.»
«Marie, ich weiß nicht, ob –»
«Wenn ich künftig anderen Menschen helfen könnte», unterbrach sie ihn, «dann hätten Daniels Tod und diese schreckliche Nacht auf der Farm im Nachhinein noch einen Sinn bekommen. Verstehst du?» Sie sah ihn flehend an. «Dieser Hans Bilg hat mein Leben lange genug beeinflusst, Papa. Ich werde ihn immer in einer Ecke meines Hirns mit mir herumschleppen. Aber ich werde ihm nicht die Macht geben, mir das Studienfach zu vermiesen, das zu mir passt!»
Sie verschränkte die Arme.
«Du weißt, ich habe von Oma Else etwas Geld geerbt», fuhr Marie fort. «Es würden also keine weiteren Kosten als bisher geplant für euch entstehen.»
«Du hast bereits alles entschieden, Marie», stellte Steenhoff fest. «Was möchtest du dann von mir?»
Sie zuckte mit den Schultern und wirkte plötzlich wie ein kleines Schulmädchen. «Es ist mir einfach wichtig, was du dazu sagst.»
Steenhoff war gerührt. Er stand auf, zog sie zu sich hoch und nahm sie fest in den Arm. Seit langem war er Marie nicht mehr so nah gewesen.
Während er den Duft ihrer Haare einatmete, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen.
‹Beinahe hätte ich dich damals verloren›, dachte er und musste schwer schlucken.
«Es war nicht deine Schuld, Papa», sagte Marie, als könnte sie Gedanken lesen. «Wenn du und Navideh nicht gewesen wärt …»
Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und strich ihr über die Haare. Dann löste er sich sanft von ihr. «Ich werde über deine Entscheidung nachdenken. Lass mir einfach ein paar Tage Zeit, okay?»
Marie nickte erleichtert.
Das Gefühl der Nähe blieb während des ganzen Frühstücks. Steenhoff wünschte sich, dass es nie aufhören würde.
Es war später Vormittag, als er sich von seiner Tochter verabschiedete und sich auf den Weg ins Präsidium machte. Marie wollte noch am selben Tag zurück nach Berlin.
Kurz vor der Brücke, die über die Wörpe führt, erreichte Steenhoff ein Anruf von Jan Schneider.
«Frank, wir haben eine neue Spur.»
Steenhoff fuhr rechts ran und lauschte, wie sein Kollege in wenigen Worten beschrieb, dass sie bei ihrer Telefonrecherche auf eine Hilfsorganisation aus Berlin gestoßen waren, bei der im Frühjahr eingebrochen worden war.
«Die Schubladen
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