Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
selbst wenn er einem keinerlei Beachtung schenkte. Genau
das war es, was mich reizte: die vielfältigen und stets intensiven Reaktionen, die er in mir wachrief. Erst wenn man einmal in seinem Lichtschein gestanden hatte, wusste man, was Helligkeit bedeutet. Ab da fürchtete ich mich davor, wieder in der Dunkelheit zu stehen. Möchtest du wissen, wie es war, an seiner Seite und doch nur eine Sklavin zu sein, Mila?«
»Ja«, sagte ich, obwohl sämtliche Alarmglocken gleichzeitig in mir losschrillten. Ich kam mir vor wie in einem dieser Träume, in denen man auf schwarzes Wasser blickt und weiß, dass es nichts Gutes birgt und dass es einen beflecken wird. Trotzdem springt man hinein, angezogen von dem Reiz, der allem Verbotenen innewohnt. Ich wollte wissen, welche dunklen Seiten Shirin mir offenbaren konnte – sowohl was die Liebe, als auch was die Schattenschwingen betraf. Ich musste es wissen, auch wenn ich mich davor fürchtete.
»Die Brandzeichen in meiner Aura«, erklärte Shirin mir. »Zeichne nur sie, lass dich ganz und gar auf sie ein. Sie werden es dir erzählen.«
Bevor ich mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen ließ, griff ich nach dem Block und nahm einen der Stifte, die auf der Fensterbank herumlagen. Die Zeichen in Shirins hell aufleuchtender Aura brannten sich auf meiner Netzhaut ein, bis ich kaum noch hinschauen musste, um sie abzubilden. Schon als ich die Mine ansetzte, begriff ich, was Shirin mit »erzählen« meinte: Es brauchte nicht lange und die Zeichen sogen mich in sich hinein. Mit jedem Strich setzte sich vor meinem inneren Auge eine Welt zusammen, die es schon lange nicht mehr gab.
24
Shirins Geschichte
Ein Saal aus Glas inmitten des nachtblauen Himmels. Der Ballsaal, endlich. Der Anfang eines neuen Lebens.
Ein Hochgefühl breitete sich gleich Sonnenstrahlen in ihrer Brust aus, als Shirin den ersten Schritt auf den spiegelglatten Boden setzte, aus dem goldenes Licht emporstieg und die Gäste anstrahlte. Nicht, dass die Gäste es nötig gehabt hätten, leuchteten die meisten von ihnen doch selbst wie unzählige Kerzen und tauchten auch ihre menschlichen Begleitungen, die nicht über eine solche innere Kraftquelle verfügten, in einen sanften Schein.
Es war der Ball, der das Frühjahr einläutete – und zugleich das offizielle Eintreten der neu Angekommenen in die Gemeinschaft der Schattenschwingen.
Obwohl es Shirin danach drängte, sich unter die Tanzenden zu mischen, blieb sie neben Samir stehen und zog lediglich eine Spur zu ungeduldig das smaragdfarbene Seidentuch zurecht, in das sie sich so gewickelt hatte, dass ihre Schwingen ausreichend Bewegungsfreiheit hatten. Dann griff sie sich auch noch ins Haar, das sie kunstvoll mit unzähligen goldenen Nadeln hochgesteckt hatte. Vermutlich sah sie aus wie eine Schmuckschatulle.
Samir, der vor einigen Wochen bei der Karawane ihrer menschlichen Familie erschienen war, um ihren ersten Wechsel in die Sphäre zu begleiten, erriet ihre Unruhe trotzdem und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Glaub mir, erstens
siehst du wunderbar aus. Du ziehst die Blicke auf dich wie ein Schwarm Fische. Zweitens wird heute noch die ganze Nacht lang getanzt, dir entgeht also nichts. Außerdem verspreche ich dir, dass es für dich ein Vergnügen sein wird, in unsere Gesellschaft eingeführt zu werden. Es geschieht ganz ungezwungen. Wir spazieren umher und ich stelle dich den führenden Köpfen unter den Schattenschwingen vor. Und damit du mir auch glaubst, fangen wir bei dem interessantesten von ihnen an: Ask. Er ist unser ungekrönter König. Seine Fähigkeiten sind beispiellos. Wenn du dich in seiner Nähe überfordert fühlst, dann mach dir nichts daraus. Das geht uns nämlich allen so.«
»Na, dann hoffe ich einmal, dass dein Ask genauso beeindruckend ist, wie du behauptest, Samir. Ich weiß nämlich nicht, was für eine Art von Musik das ist, die hier gespielt wird, aber sie bringt Leben in meine Füße. Es ist eine Schande, auf diesen Tanz zu verzichten.«
Samir lachte und führte sie geschickt durch die Reihen der plaudernden Ballgäste, unter denen die Debütanten allesamt an ihrem glasigen Blick und ihren angespannten Schultern – wegen der ungewohnten Last der Schwingen und ihrer Aufregung – zu erkennen waren.
Für Shirin war alles ein großes Fest, genau wie sie es sich ihr ganzes Leben lang erträumt hatte. Ihre Familie hatte sie gehütet wie einen kostbaren Edelstein, ab dem Moment, wo sie als Neugeborenes die Augen aufgeschlagen
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