Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Eintritt verweigert hätte, egal, was er dazu sagen mochte. Doch jetzt, da ich Rufus’ aufgebracht funkelnde Augen sah, wollte ich ihn bei mir haben. Also schüttelte ich den Kopf und brach in Tränen aus, als mein Bruder mich fragte, was zur Hölle denn passiert sei. Ich krallte mich an ihm fest und brachte nicht mehr als die Worte »Sam« und »Auszeit« hervor. Erst als der Druck ein wenig nachließ, konnte ich vom merklich verstörten Rufus ablassen. Sogleich zog Shirin mich an sich und flüsterte mir beruhigende Worte zu. Offenbar machte es ihr weniger aus, aufgelöste Teenagermädchen zu trösten.
»Mensch, Mila. Ich begreife nicht ganz, warum es dir so elend geht, wenn du doch diejenige bist, die Sam aufs Abstellgleis gestellt hat.« Rufus rutschte umher, als hocke er auf heißen Kohlen.
»Begreifst du das wirklich nicht, du dummer Junge?« Es gelang Shirin, die Frage mit einer gewissen Milde rüberzubringen. Offenbar tat ihr mein Bruder in dieser Situation fast ein wenig leid.
»Es ist … na ja, ziemlich widersprüchlich, oder? Wenn sie mit Sam zusammen sein will, hätte sie ihn doch nicht wegschicken müssen. Dass es dem jetzt schlecht geht, kapiere ich. Aber ihr?« Rufus zuckte mit den Achseln, dann blinzelte er. Offensichtlich war ihm eine Idee gekommen. »Jemand
sollte unbedingt nach Sam sehen. Wie es ihm geht. Wo steckt er denn eigentlich?«
Die Erkenntnis, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo Sam sich gerade aufhielt, dass ich nicht einmal mehr ein Recht darauf hatte, es zu wissen, trieb mir erneut die Tränen in die Augen.
»Scheiße, Mila. Hör auf damit. Ich werde noch ganz verrückt, wenn du so rumheulst.« Egal, wie derb Rufus es auch formulierte, ich wusste, es war reiner Ausdruck von Bruderliebe. Es machte ihn tatsächlich verrückt, mich in diesem Zustand zu sehen, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.
Zu meiner Erleichterung übernahm Shirin das Ruder. »Samuel hält sich irgendwo in dieser Gegend auf. Ich kann seine Gegenwart spüren, aber er verweigert mir jegliche Antwort. Ich komme mental nicht einmal in seine Nähe. Bestimmt hält er sich am Meer auf, hat sich zurückgezogen, um seine Wunden zu lecken. Geh und sieh du nach ihm, ich bleibe bei Mila. Und sag Ranuken, er soll den Kühlschrank in Ruhe lassen und Kastor holen gehen. Nur für den Fall, dass Samuel mehr als einen Freund braucht.«
Rufus nuschelte aufgebracht vor sich hin, dann berührte er zaghaft meinen Oberarm. Ich schniefte wenig damenhaft, nickte ihm aber aufmunternd zu. »Geh du zu Sam, er braucht jetzt bestimmt einen Freund. Wenn Shirin bei mir bleibt, ist das vollkommen in Ordnung. Dann kann ich mich wenigstens hemmungslos ausweinen.«
»Das kannst du auch bei mir«, sagte Rufus so treuherzig, dass ich sofort wieder zu schluchzen anfing.
»Hau schon ab«, brachte ich gerade noch hervor, dann vergrub ich mich in Shirins Armen.
Der Abend war bereits angebrochen, als ich mich wieder leidlich im Griff hatte. Shirin hatte mir eine Decke um die Schultern gelegt und mich für höchstens eine Minute allein gelassen, um ein Glas Milch und eine Tafel Schokolade aus der Küche zu organisieren. Zuerst wurde mir allein bei dem Gedanken schlecht, etwas herunterbekommen zu müssen, aber nach dem ersten Bissen merkte ich, wie ausgehungert ich war. Ganz gleich, wie wund sich mein Inneres anfühlte, ich musste essen. Meine Nerven flatterten eh schon schlimm.
Während ich voll Widerwillen auf der Schokolade herumkaute, nahm Shirin meinen Zeichenblock auf und sah sich das unvollendete Ginkgoblatt an.
»Du hast das Blatt noch nicht ganz fertig gemalt. Warum? «
»Weil ich nicht weiß, wie ich es zu Ende bringen soll. Dort unten, wo die beiden Hälften des Blattes zusammengehen … soll ich sie so malen, als wären sie eins oder als wären sie zwei zusammengefügte Hälften?«
Anstatt zu antworten, saß Shirin wie erstarrt da. Ich hatte diesen Zustand bereits bei anderer Gelegenheit an ihr beobachtet. Von hundert runter auf null. Wenn sie über etwas Wichtiges nachdachte, stellte sie innerhalb einer Sekunde sämtliche Lebenszeichen ein. Einmal Fingerschnipsen, und weg war sie. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie sich jahrelang nicht gerührt und sich anschließend gewundert hätte, dass mir in der Zwischenzeit graue Haare gewachsen waren. Was mir erneut vor Augen führte, wie groß der Graben zwischen einer Schattenschwinge und einem Menschen war: Während Zeit für uns Menschen nicht nur eine Abfolge
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