Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
mir das Denken zusehends schwerfiel. Ständig wurde ich abgelenkt, etwa durch das Rascheln meines Kleidersaums, sobald ich einen Schritt tat. In meinen Ohren klang es nach einem Lied, das von einem Mädchen erzählte, das tanzend Kreise zog. Ich musste mich schütteln, um diesen Eindruck abzustreifen. Meine Wahrnehmung war vollkommen überreizt, nachdem ich mich der Sphäre durch Nikolais Zutun angenähert hatte. Alles wurde stetig intensiver, vielfältiger, damit auch verwirrender und forderte unablässig meine Aufmerksamkeit. Ich war wie ein Neugeborenes, auf das die Eindrücke der Welt nur so einprasselten. Mit dem Unterschied, dass es nicht besser, sondern von Stunde zu Stunde schlimmer wurde. Da konnte ich Lenas Widerspenstigkeit wirklich nicht gebrauchen.
»Ich werde jetzt gehen«, verkündete ich mitten in ihren Redeschwall hinein und hielt auf den Gang zu, der zur Treppe führte.
Für einen Augenblick stand Lena noch bedeppert da, dann folgte sie mir schimpfend. Dabei war sie viel zu laut, ihre Stimme schmerzte in meinen Ohren. Kratz-kratz machte es.
Mit meinen Nerven am Ende stellte ich mich ihr in den Weg. »Ich gehe allein. Verstehst du? Allein, also ohne dich im Schlepptau, du Sturkopf.«
Entschlossen griff ich nach der gläsernen Wand, die den Treppenschacht von der Kammer trennte, und zog sie so weit zu, bis sie den Gang abriegelte. Lena starrte mich mit vor Empörung weit aufgerissenen Augen an, ihre Unterlippe bebte, dann schlug sie mit der Faust gegen die Wand, die ich geschaffen hatte. Dann noch einmal. Es nützte jedoch nichts, durch die Wand lief nicht einmal ein Zittern. Lenas Lippen begannen sich erneut zu bewegen, vermutlich verfluchte sie mich. Zu mir drang allerdings kein einziger Ton durch, ich hatte meine Arbeit wirklich hervorragend gemacht. Als ich sah, dass Lena kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, wendete ich mich ab und stieg die Stufen runter zum Ort der Versammlung, froh, sie hinter mir gelassen zu haben.
Lena war da, um mich daran zu erinnern, wer ich war.
Nur wollte ich das jetzt gar nicht wissen.
∞∞
Mitten in dem von Wasseradern durchzogenen Saal stand ein mächtiger runder Tisch, dessen Oberfläche nur darauf zu warten schien, das einfallende Sternenlicht zu spiegeln. Bis dahin begnügte er sich damit, die aufziehende Abenddämmerung einzufangen.
Ein Schmunzeln schlich sich in meine Mundwinkel, während ich mich so weit wie nötig um die Ecke lehnte, um alles im Blick zu haben. Es war ein Tisch wie aus einem Märchen, groß und beeindruckend. Er strahlte jenen Zauber aus, bei dem man sich wie ein Kind die Augen reibt, weil man kaum glauben kann, dass er echt sein soll. Nikolai hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, um Solveig und ihre Gefolgschaft zu beeindrucken. Wenn ich mir die Schattenschwingen ansah, die durchweg einen sehr jungen Eindruck machten, dann musste ich zugeben, dass ihm das hervorragend gelungen war. Auf ihren Zügen spiegelte sich der Wille, für ihre Sache einzustehen, bei manchen sogar Kampfeslust, als könnten sie die Auseinandersetzung kaum erwarten. Einige hatten primitive Waffen wie Stöcke oder Speere mit Bernsteinspitzen mitgebracht, während andere sich mit Farbe oder Ruß Zeichen auf die Wangen gemalt hatten. Dabei hatten sie es eigentlich gar nicht nötig, denn allein ihre Entschlossenheit wirkte einschüchternd und brachte den Saal wie ein Hornissennest zum Vibrieren.
Es waren junge, kampfbereite Schattenschwingen, die kaum etwas über ihre Vergangenheit und noch weniger über ihre Fähigkeiten wussten, dafür aber voller Leidenschaft waren. Sie lechzten nach der Veränderung, die sich am Horizont abzeichnete, und hingen gemeinsam der Hoffnung auf eine Zukunft nach, in der sie und ihre Gaben etwas bedeuten würden. Und wohin hatte sie diese Sehnsucht getrieben? In die Arme des Verführers Nikolai. Während die alten Schattenschwingen sich um die Wächter scharten und gegen jedes Anzeichen von Veränderung angingen, hing jede einzelne von ihnen an Nikolais Lippen, der in ruhigem, aber bestimmtem Ton erklärte, dass sie die Geißel der Älteren, vor allem der Wächter, abschütteln mussten, bevor sie den Glanz der alten Sphäre wieder aufleuchten lassen konnten.
»Solange jeder von uns auf eigene Faust versucht, seine Gaben zu erforschen oder gar die Sphäre seinen Bedürfnissen anzupassen, werden wir nicht weit kommen. Asami und seine Leute sind viel zu erfahren darin, alles zunichte zu machen, was ein einzelner aufbaut. So wie bei
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